Deutsche Fluchten - von heiter bis bitterernst

Bruno Preisendörfers Anthologie "Fluchten vor dem Vaterland"

Von Waltraud StrickhausenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waltraud Strickhausen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Deutschland - ein schwieriges Vaterland: Dieses Thema früherer Wagenbach-Bücher wird in der neuen Anthologie "deutscher Geschichten" von Bruno Preisendörfer einmal mehr variiert. Unter dem Stichwort "Fluchten vor dem Vaterland" vereint sie so disparate Erfahrungen wie die Georg Büchners oder die eines Konrad Merz, die beide - im Abstand von einem Jahrhundert - nur knapp dem hessischen Kerker beziehungsweise dem nationalsozialistischen KZ entkommen waren, mit der von Karl Philipp Moritz in überschwänglichen Bildern (von "bekränzten Ochsen" und "jauchzende[n] Knaben") geschilderten Ankunft im "Land der Sehnsucht", Italien. Der Begriff der "Flucht" wird also von Preisendörfer im allerweitesten Sinne gebraucht.

Das Spektrum der ausgewählten Passagen aus Prosatexten und Briefen wie auch Gedichten reicht, der Chronologie folgend, von Moritz' "Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788. In Briefen" (erschienen 1792/93), dessen erster Brief den Auftakt bildet, bis hin zum ersten Kapitel aus dem Roman "Ein Garten im Norden" (1998) des 1959 in Stuttgart geborenen Autors Michael Kleeberg, in dem die Fragwürdigkeit des Begriffs "Heimat" jenseits der Bindung an ganz bestimmte geliebte Menschen im Zeitalter von Mobilität und Globalisierung thematisiert wird. Breiten Raum gibt Preisendörfer vor allem der Literatur nach 1949: Das Kapitel "Deutsche Mühlen" beispielsweise stellt Texte aus den beiden deutschen Staaten zusammen, in denen die zerstörten Hoffnungen und zwischenmenschlichen Beziehungen als Folgen der zwölfjährigen NS-Herrschaft kenntlich gemacht werden, wie in Wolfgang Koeppens Roman "Treibhaus" (1953) oder Johannes Bobrowskis Erzählung "Brief aus Amerika" (1965).

Gemeinsamer Nenner der Geschichten ist das Unbehagen, das Leiden an den jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen, seien es die Erfahrungen von politischer Unfreiheit, persönlicher Abhängigkeit von einem Dienstherrn und des sozialen Elends, die Johann Gottfried Seume auf seinem "Spaziergang nach Syrakus" (1803) den Blick schärften für das tatsächliche Italien, sei es die Kritik am Arbeitsbegriff der nur noch am Ökonomischen orientierten bürgerlich-aufgeklärten Gesellschaft in Joseph von Eichendorffs "Aus dem Leben eines Taugenichts" (1826), die restaurative Atmosphäre der Adenauer-Ära in Westdeutschland oder die Enge und der Konformitätsdruck im SED-Staat.

Einige der Textpassagen fangen den kritischen Augenblick der Flucht und das damit verbundene Wechselbad von Furcht und Hoffnung ein, zum Beispiel beim Grenzübertritt aus der DDR nach Westberlin, den der 1980 übergesiedelte Kurt Bartsch in einer Collage aus Gegenstandsbeschreibung und Gedicht mit dem Titel "Der Paß" beschreibt. Andere geben die ihr vorausgehenden Reflexionen wieder, so etwa in Alfred Anderschs "Die Kirschen der Freiheit. Ein Bericht" (1952) die Überlegungen des Protagonisten vor der Desertion, oder sie schildern die ersten Eindrücke und Schritte des gerade eben in der Fremde Angekommenen.

Die Geschichten wurden, so Preisendörfer, "unter dem Gesichtspunkt der Gegenwart 'zusammengelesen'". Angesichts der Diskussion über die Rolle Deutschlands als Einwanderungsland und der bei vielen Menschen damit verbundenen Ängste und Vorbehalte sollen sie die Leser darauf aufmerksam machen, dass Deutschland in zwei Jahrhunderten wechselvoller Geschichte selbst stets ein "Auswanderungsland" gewesen ist. Problematisch an dieser Art von Textsammlung erscheint mir allerdings, dass hier mehr oder weniger freiwillige und jederzeit umkehrbare Ortswechsel gleichwertig neben Berichten über die Flucht vor Verfolgung und Todesgefahr stehen, ohne dass diese Diskrepanzen irgendwie kommentiert würden. Auch die im Anhang enthaltenen Kurzbiografien der zitierten Autoren und die Angaben über die Kontexte der ausgewählten Passagen sind äußerst spärlich gehalten. Hier könnte die Gefahr der Einebnung und Verharmlosung drohen, würden nicht Texte wie etwa Büchners Briefe aus dem Straßburger Exil so nachdrücklich für sich selbst sprechen.

Titelbild

Bruno Preisendörfer (Hg.): Fluchten vor dem Vaterland. Deutsche Geschichten.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1999.
189 Seiten, 10,10 EUR.
ISBN-10: 3803123402

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