Exilforschung

Rückblick, Ausblick, Perspektiven

Von Waltraud StrickhausenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waltraud Strickhausen

Die Anfänge der Sammel- und Forschungsaktivitäten zum deutschsprachigen Exil ab 1933 reichen zurück bis in die Zeit der Verfolgung und Vertreibung. Es waren zunächst die Exilierten selbst, die Textsammlungen veröffentlichten und versuchten, einen ersten Überblick über die Schicksale der vor den Nazis aus Deutschland und den besetzten Gebieten Mitteleuropas Geflüchteten zu gewinnen. Als Beispiel im Bereich der biografischen Erfassung sei hier nur die Biobibliographie "Deutsche Exil-Literatur 1933-1945" erwähnt, die der zum Kreis des pazifistischen Exils gehörende Wilhelm Sternfeld zusammen mit Eva Tiedemann zuerst 1962 und in einer erweiterten Auflage 1970 herausbrachte. Dieser ersten Bestandsaufnahme folgte dann Anfang der 80er Jahre das groß angelegte Projekt des "International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933-1945", herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte in München und von der Research Foundation for Jewish Immigration, New York, unter der Gesamtleitung von Werner Röder und Herbert A. Strauss.

Für mehr als zwei Jahrzehnte nach Kriegsende, bis in die 60er Jahre hinein blieb die Erfassung und Dokumentation der deutschsprachigen Exilliteratur auf die Bemühungen Einzelner beschränkt. Der Versuch Thomas Manns nach dem Krieg, durch die Beanspruchung der moralischen und literarischen Alleinvertretung des Exils gegenüber der so genannten "Inneren Emigration" das Exil "als Orientierungs- und Identitätsmythos der deutschen Literatur und Gesellschaft zu etablieren" (Lutz Winckler), blieb im Westen Deutschlands erfolglos, während zur gleichen Zeit in der DDR der staatlich verordnete Antifaschismus eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung zum Nationalsozialismus gleichfalls behinderte.

Lutz Winckler hat 1995 in einem richtungsweisenden Vortrag ("Exilforschung", Bd. 13; siehe dazu auch den Beitrag zur "Wirkungsgeschichte" im "Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945") dargelegt, wie im Prozess der von den Universitäten ausgehenden gesellschaftlichen Neuorientierung ab Mitte der 60er Jahre die literarische Exilforschung Einfluss auf die Germanistik gewann, die gerade damit begonnen hatte, ihre eigene, wenig ruhmreiche Geschichte während der NS-Zeit wahrzunehmen. In der Folge und nach einer Art von Grundsatzdebatte habe innerhalb der Exilliteraturforschung ein Prozess der Mythenbildung eingesetzt, der die Exilforschung, analog zu den "konservativ-geistigen", "bürgerlich-humanistischen" und "sozialistischen Strömungen des Exils" (Jost Hermand), in verschiedene Richtungen spaltete, die unterschiedliche Methoden (geistesgeschichtlich versus sozialgeschichtlich/marxistisch orientiert) entwickelten und bestimmte Autoren für sich reklamierten.

Der Mythos "engagierter Literatur", den Hans-Albert Walter 1970 mit seinem Plädoyer für die Rehabilitation der Exilliteratur und ihre Modellfunktion für die Gegenwartsliteratur begründete, habe, so Winckler, über ein Jahrzehnt lang "eine Generation von Forschern, Studenten und Lesern bestimmt". Die Arbeiten der siebziger Jahre waren hauptsächlich der Grundlagenforschung gewidmet. Die erste Ausgabe der Zeitschrift "Exil" erschien 1978, 1983 das erste Jahrbuch "Exilforschung", das von der amerikanischen Society for Exile Studies seit 1984 gemeinsam mit der neu gegründeten Gesellschaft für Exilforschung herausgegeben wird. Nicht nur nahmen die etablierten Verlage Texte der Exilliteratur verstärkt in ihre Programme auf; es nehmen sich u. a. auch kleinere Verlage wie der persona verlag in Mannheim, der sein Verlagsprogramm mit dem bis dahin unbekannten Exilroman "Manja" von Anna Gmeyner eröffnet hatte, der Weidle Verlag in Bonn oder der Bleicher Verlag in Gerlingen längst vergriffener oder bisher ungedruckter Werke des Exils an. Sammel- und Forschungsstätten für die Exilliteratur wurden in der Bundesrepublik Deutschland an erster Stelle das Deutsche Exilarchiv 1933 - 1945 der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main, dessen Sammlung anfänglich bis ins Jahr 1948 zurückreichte (Ursula Langkau-Alex, "Geschichte der Exilforschung, in: "Handbuch"), und die Walter-A.-Berendsohn-Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur an der Universität Hamburg; die zu DDR-Zeiten parallel existierende Sammlung Exilliteratur 1933 - 1945 der Deutschen Bücherei in Leipzig kooperiert nun mit dem Deutschen Exilarchiv. In Österreich widmen sich dieser Aufgabe neben dem Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes in jüngster Zeit auch die mit der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur verbundene Österreichische Exilbibliothek im Literaturhaus Wien, und auch das Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek besitzt Nachlässe von Exilanten.

Von 1973 - 1983 förderte die DFG die Grundlagenforschung und Projekte zum politischen und künstlerischen Exil; anschließend wurde ein Schwerpunktprogramm zur "Wissenschaftsemigration" eingerichtet. Mittlerweile fließen Gelder zur Finanzierung von Forschungsprojekten, Tagungen oder Publikationen sowohl aus öffentlichen Quellen wie auch von privaten Stiftungen jedoch nur noch spärlich. Die Exilforschung in Österreich hat es im Vergleich zur deutschen ungleich schwerer gehabt; unter den neuen politischen Verhältnissen seit dem vergangenen Jahr hat sich die finanzielle Förderung der Exilforschung dort erneut verschlechtert. Ihre sehr beachtlichen Ergebnisse verdankt sie hauptsächlich der Initiative einzelner Forscher und Forschergruppen.

Etwa seit Beginn der achtziger Jahre, nicht zuletzt ausgelöst durch den Film "Holocaust", wird das Thema "Auschwitz" öffentlich diskutiert. Hierdurch habe, so Ernst Loewy "das (insbesondere jüdische) Leidens- und Opfermotiv gegenüber dem Widerstandsmotiv eine vermehrte Beachtung auch in der Exilforschung gefunden" ("Exilforschung" Bd. 9). Gegenüber der Erinnerungsliteratur von Holocaust-Überlebenden, der in jüngster Zeit endlich die längst überfällige Aufmerksamkeit zuteil wurde, ist die Exilliteratur und Exilforschung wieder in den Hintergrund gerückt. Dies gilt leider auch für den Bereich der Lehre im Fach Neuere deutsche Literatur an Hochschulen und Universitäten, wo zwar immer wieder einmal Seminare zu einzelnen Exilautoren stattfinden, das Thema Exilliteratur als solches jedoch selten angeboten wird. Gleichwohl sind nach einer Reihe von ersten Überblicksdarstellungen gerade in den achtziger und neunziger Jahren zahlreiche Einzelstudien entstanden, die die Materialbasis für eine vergleichende Betrachtung der im Exil entstandenen Gedichte, Dramen und Prosatexte erheblich erweitert haben.

Die Exilforschung hat insgesamt auf den Gebieten der literarischen und künstlerischen wie dem der Wissenschaftsemigration umfangreiche Forschungsarbeit geleistet, so dass am Ende des 20. Jahrhunderts, das zweifellos das Jahrhundert der Flüchtlingsströme genannt werden kann, eine Sichtung des Vorhandenen und eine erneute Diskussion über verbleibende Desiderate und zukünftige Forschungsperspektiven notwendig erschien. Dem widmeten sich zum einen zwei Ausgaben des Jahrbuchs "Exilforschung": Band 14/1996 mit dem Thema: "Rückblick und Perspektiven" sowie der Band 18/2000 über "Exile im 20. Jahrhundert", der an dieser Stelle besprochen wird. Eine kompakte Zusammenfassung des vielfältigen, bisher angesammelten Wissens über die deutschsprachige Emigration der NS-Zeit unternahmen dagegen die Herausgeber des "Handbuchs der deutschsprachigen Emigration 1933 - 1945". Für die österreichische Emigration haben Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser erstmals ein umfangreiches Lexikon vorgelegt.

Zu den Forschungsperspektiven, die zumindest ansatzweise bereits in Angriff genommen worden sind, gehören zum einen die Beschäftigung mit dem "Exil der kleinen Leute" (Wolfgang Benz), der Versuch auch, einen fruchtbaren Austausch der Exilforschung mit der allgemeinen Migrationsforschung zu etablieren. Erste Bemühungen, den Blickwinkel auf die Flüchtlingsströme aus anderen Ländern und Kontinenten zu erweitern, oder zum Beispiel im Rahmen von Tagungen einen Austausch zwischen Exilanten der NS-Zeit, Exilforschern und Exilierten heute herzustellen, hat sich bisher als schwieriger erwiesen, als man zunächst erwartet hätte. Stärkere Berücksichtigung findet in den Forschungsarbeiten der letzten Jahre auch die Frage der Akkulturation der Emigranten in ihren Asylländern und ihr Beitrag zu deren wirtschaftlichem und kulturellem Leben.

Nachdem sehr viel Zeit versäumt worden war und die Zahl der noch lebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen von Jahr zu Jahr dahinschwindet, wurde in den letzten Jahren besonderes Augenmerk auf die Sicherung der verfügbaren Informationen, die mit dem Aussterben der Exilgeneration verloren zu gehen drohten, und die Dokumentation von Einzelschicksalen gerichtet. Diesem Bereich ist daher ein eigener Abschnitt unter den folgenden Rezensionen gewidmet, wobei der von Beatrix Müller-Kampel herausgegebene Band über aus Österreich stammende Germanisten in den USA vom Standpunkt der wissenschaftlichen Aufarbeitung besonders positiv hervorsticht.

Ein weiterer Bereich, in dem noch immer ein Nachholbedarf konstatiert wird, ist das Exil der Frauen und, über die Sammlung biografischer Daten und Informationen hinaus, die Erforschung des Exils und der Exilliteratur unter gender-spezifischen Gesichtspunkten. Weitere thematische Schwerpunkte der hier vorgestellten Forschungsliteratur bilden Neuerscheinungen, die sich - sei es allgemein, sei es im Bezug auf die Literatur - auf ein spezielles Asylland konzentrieren. Neuere Forschungsarbeiten liegen darüber hinaus vor zu den Bereichen der Exilliteratur, insbesondere auch zur Publizistik im Exil, und der Literatur der so genannten "Inneren Emigration". Dem Filmexil und den Künsten sind zwei weitere Besprechungen gewidmet. Schließlich werden unter den Stichworten "Nachkriegsplanung und Remigration" u.a. eine Dokumentensammlung zu den "Deutschlandplänen im Widerstand und Exil" und eine umfangreiche Studie zur Rückberufungs- und Wiedergutmachungspraxis im Falle der Göttinger Hochschullehrer vorgestellt.

Am Beginn des Rezensionsschwerpunkts jedoch, der übrigens nicht den Anspruch einer auch nur annähernd vollständigen Erfassung aller Neuerscheinungen der jüngsten Zeit erhebt, sondern eine notwendigerweise subjektive Auswahl darstellt, stehen literarische Texte aus der Exilzeit, die zum ersten Mal - wie der nach 60 Jahren wiederentdeckte Roman Karl Ottens - oder in einer erweiterten Neuedition - wie die Werke Kurt Tucholskys - aufgelegt worden sind. Die sich anschließende Rubrik der "Erinnerungsbücher" konstituiert sich mittlerweile, ebenso wie die so genannte Holocaust-Literatur, überwiegend aus den persönlichen Berichten derjenigen, die zum Zeitpunkt ihrer Emigration noch Kinder oder Jugendliche waren. Unter den "Texten über Exil und Emigration" findet sich der ungewöhnliche Fall einer sozialwissenschaftlichen Studie zur französischen Emigration nach 1789, vorgelegt von der Mannheim-Schülerin Nina Rubinstein, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ins Exil gehen und dadurch 56 Jahre lang auf ihre Promotion warten musste.

Bei der von Bruno Preisendörfer herausgegebenen Anthologie zum Thema "Fluchten vor dem Vaterland" stellt sich die Frage, inwieweit die hier erfolgte Verwendung des Begriffs der "Flucht" in einem äußerst weiten Sinne des Wortes möglicherweise die Gefahr der Verflachung und Verharmlosung des Exilbegriffs in sich birgt. Die Betrachtung von Exil und Auswanderungsbewegungen in diachroner Perspektive, die wieder zu den neueren Tendenzen der Exilliteraturforschung gehört, birgt sowohl Chancen wie Gefahren. Gegen die typologisierende Betrachtung der Exildichtung in Werner Vordtriedes Aufsatz "Vorläufige Gedanken zu einer Typologie der Exilliteratur" (1968), die die gesamte literarische Tradition von Homer über Dante bis zur Gegenwart mit einschloss, erhob Jost Hermand (1972) den Einwand, dass hier der Begriff Exil zur "bloßen Existenzmetapher" verblasse. Hermands Warnung, dass das Exil dabei letztlich zu einer allgemein menschlichen Befindlichkeit verflachen könnte und die politische Dimension von Verfolgung, Flucht und Vertreibung in der NS-Zeit ausgeblendet würde, scheint mir nach wie vor nicht unberechtigt. Andererseits würde die Exilforschung m. E. zum Stillstand kommen, wenn sie ihren Blick nur auf diese bestimmte Epoche richten und den Rückblick in die Vergangenheit, vor allem jedoch den Ausblick in Gegenwart und Zukunft vermeiden würde. Was nützt es, etwas über die Vergangenheit zu wissen, wenn man sie mit der Gegenwart nicht in Beziehung setzt?

Lutz Winckler beschreibt den Wegfall der Mythen der Exilforschung nach dem Zerfall des Systemantagonismus von Sozialismus und Kapitalismus, der sie bis dahin aufrechterhalten hatte, als Chance für eine Neubetrachtung und Neubewertung auch der Exilliteratur:

"Die Historisierung begünstigt eine strukturalistische Forschung, die interessiert ist an Vergleichen, an Ambivalenzen und offenbleibenden Widersprüchen. Der strukturelle Ansatz, der die Kritik am Faschismus und Stalinismus als totalitären Herrschaftsformen umfasst, kann Impulse für Minderheitenforschungen vermitteln, für die Analyse historischer und zeitgenössischer Ausgrenzungs- und Vernichtungsdiskurse. Der strukturelle Ansatz kann schließlich zur Erneuerung einer Dialektik der Aufklärung führen, wie sie von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, aber auch von Norbert Elias und Walter Benjamin im Exil entwickelt wurde. [...] Die Widersprüchlichkeit des Projekts der Moderne, aus dem Faschismus und Exil nicht ausgeklammert werden dürfen, kann ein struktureller Ansatz umso eher herausarbeiten, als das Tabu mythischer Regelverletzungen mit dem Zerfall des Mythos selbst verschwindet." ("Handbuch")

Bezogen auf die Analyse von Massenvertreibungen und massiver Unterdrückung bestimmter Bevölkerungsgruppen als einer besonderen Erscheinung des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts, öffnet dieser Wegfall der Mythen den Blick auf möglicherweise vorhandene strukturelle Ursachen, die von ideologischen Absichten und Vorgaben unabhängig existieren. Als eine mögliche Ursache für die Vertreibungen des vergangenen Jahrhunderts bringen die Herausgeber des Jahrbuchs "Exilforschung" in Bd. 18, "Exile des 20. Jahrhunderts", den wachsenden Modernisierungsdruck seit der Zeit der Industrialisierung ins Spiel. Im Laufe des Jahrhunderts ist die Welt unserer Urgroßeltern vollständig verschwunden. Von daher erscheint mir das Argument plausibel; auch und gerade für das feudalistisch-agrarisch strukturierte Russland des frühen 20. Jahrhunderts, das in kürzester Zeit zu einem modernen Industriestaat umgebaut werden sollte. In jedem Falle sollten die erneute Diskussion über mögliche Ursachen in den 'Vertreiberländern' Hand in Hand gehen mit der Schaffung und Bewahrung humaner Asylbedingungen, um den Menschen das große Leid nach Möglichkeit zu ersparen, das die Vertreibung aus dem vertrauten Umfeld in jedem Falle mit sich bringt und das durch eine abschottende oder diskriminierende und isolierende Asylpolitik noch vermehrt wird.