Viele haben ihre Füße in zwei Gesellschaften

Im Dschungel ethnischer Kategorien

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage nach der Herkunft - der nationalen oder ethnischen Etikettierung - ist schwer zu beantworten und selten wertneutral gemeint, sondern mit Abgrenzungen und Ausgrenzungen verbunden. Immer wieder wurden - und das bis heute - im Namen rassischer, ethnischer und nationaler Ordnungsversuche Menschen verfolgt und vertrieben, Familien sortiert und auseinander dividiert, Gruppen unterdrückt, gejagt und getötet.

Von diesen Ordnungsversuchen, Feldzügen und Spurensuchen im Bereich von Gruppenbezeichnungen handelt die neue brisante Studie der Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim. Sie fördert manche Spezies zu Tage wie etwa "den weißen Neger", "den nichtjüdischen Juden", "den Passdeutschen", "den Bindestrich-Deutschen", "den inländischen Ausländer", "den ausländischen Inländer" sowie fragwürdige, uns allen vertraute Begriffsbildungen wie "Mischehe", "jüdischer Mitbürger" und - "Arier". Der Dschungel ethnischer Kategorien ist fürwahr ein hoch sensibles Terrain, das eine Fülle von Fragen weckt: Wer ist Deutscher? Wer ist wer? Wer ist was? Welche historischen Erfahrungen und gesellschaftlichen Entwicklungen, welche rechtlichen Festlegungen und politischen Absichten verbinden sich mit den einzelnen Etikettierungen? Wo sind die Grenzziehungen? Welche Interessen werden vertreten? Welche verletzt? Welche Geschichten von Herrschaft und Macht, von Gewalt, Verfolgung und Unterwerfung stehen dahinter? Und natürlich: entsprechen die alten Zugehörigkeitskonzepte überhaupt noch der gegenwärtigen Realität?

Obgleich es immer mehr Paare gibt, die sich durch Herkunft, Nationalität, Religion, Hautfarbe oder Kulturkreis voneinander unterscheiden und obgleich durch diese Partnerschaften und deren Kinder die Zahl der Menschen steigt, die sich mit den herkömmlichen Kategorien wie "Schwarze", "Italiener", "Juden" nicht erfassen lassen, ist die nationale oder ethnische Herkunft keineswegs bedeutungslos geworden. Doch soviel steht fest: im Zeitalter der Globalisierung werden die ethnischen Zuordnungen zunehmend komplizierter. Durch Migration und Mobilität, Flucht und Vertreibung, internationale Arbeitsteilung und Wirtschaftsvernetzung wächst die Zahl jener, die aus unterschiedlichen Gründen ihre Heimat verlassen, entweder für kürzere oder längere Zeit oder für immer, so dass zahlreiche Gruppen "ihre Füße in zwei Gesellschaften haben." Gemischte Familien, Migranten, Lebensformen des Transnationalen - kurzum die Entwicklung zu mehr ethnischer Buntheit, empfinden viele als anstößig. Widersprechen diese Phänomene, wie etwa die Tatsache, dass ein Schwarzer auch ein Deutscher sein kann, doch den Annahmen des Alltagsbewusstseins und den Regeln der Institutionen.

Nicht wenige Deutschen haben Schwierigkeiten, genau zu bestimmen, was ihre Kultur ausmacht, dennoch stemmen sich viele in der Bundesrepublik gegen die aktuelle Entwicklung und das Verschwimmen der Grenzen, vielleicht weil sie noch immer vom nationalstaatlichen Denken ausgehen. Immerhin basieren moderne Nationalstaaten, wie Beck-Gernsheim plausibel erklärt, in Aufbau und Anspruch auf einer klaren Unterscheidung zwischen "wir" und "den anderen". Nach außen folgen sie dem Freund-Feind-Schema, nach innen der Aufspaltung der Bevölkerung in Bürger einerseits und sonstige Menschen anderseits. Dabei ist die Orientierung an Nation oder ethnischer Gruppe kein selbstverständlicher Bestandteil der Welt, meint die Wissenschaftlerin und erinnert daran, dass erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts mit dem Aufstieg des Nationalismus zur "säkularen Religion der Moderne" ethnische und vor allem nationale Zugehörigkeit zum zentralen Bezugspunkt geworden ist und dass nicht Natur, sondern Zufall und Willkür, vermischt mit Macht und Gewalt, oft vielfältige und heterogene Gruppen unter dem Begriff der Nation zusammengeführt haben.

Die Autorin vermittelt einen historischen Rückblick über zwei Formen gemischter Familien, die nach Geschichte und Lebensumständen zwar weit voneinander entfernt sind, aber doch gewisse Parallelen aufweisen, nämlich die Verbindungen zwischen Schwarzen und Weißen in den USA zu Zeiten der offenen Rassendiskriminierung sowie jene zwischen Juden und Nichtjuden im nationalsozialistischen Deutschland. Im ersten Fall ging es um die Frage: "Wer ist ein Schwarzer?" Im zweiten Fall um die Frage: "Wer ist ein Jude?"

Inzwischen ist es an manchen Stellen zu einer Umwertung der Maßstäbe gekommen. Schwarze haben für sich den Slogan "Black is beautiful" geprägt. Auch andere ethnische Gruppen haben Selbstbewusstsein entwickelt. So ist nach Ansätzen zur Rassenintegration die Tendenz zur ethnischen Polarisierung überall gewachsen, die in den USA und anderswo neue Kontroversen hervorgerufen hat.

Wie erfolgversprechend ist dagegen der multiethnische Weg? Führt er in eine humane, friedliche Zukunft? fragt die Verfasserin und zitiert den Soziologen Amitai Etzioni, demzufolge die Einführung der Vokabel "multiracial" mit dazu beitragen könnte, "dass Amerika mehr wie Hawai aussehen wird, wo die verschiedenen Gruppen sich frei vermischen, und weniger wie Indien, wo die Bevölkerung noch immer strikt nach Kasten getrennt ist." Aber dieser Vorschlag findet nicht nur Anhänger. Ein schnelles Entkommen aus den langen Schatten der Geschichte ist offenbar unmöglich.

Beck-Gernsheim richtet ihren Blick auch auf die deutsche Politik mit ihren Sortierungs- und Unterscheidungsversuchen zwischen Ausländern und Inländern und diskutiert die Fragen: Wer ist Schwarzer?, Wer ist Jude? und Wie deutsch sind die Deutschen? Natürlich hat auch die Soziologin keine griffigen Antworten parat. Vielmehr wird durch ihre Ausführungen deutlich, wie schwierig es ist, diese Fragen auch nur annähernd befriedigend zu beantworten, nicht zuletzt deshalb, weil Schwarz und Weiß nicht so sehr Hautfarben sind, sondern eher kulturelle Erfindungen, die ihre eigene Logik haben, ihre eigene Dynamik und Explosivkraft.

Sogar bei der Suche nach dem Deutschsein der Deutschen müssen wir auf eine brauchbare Lösung verzichten, zumal die Kluft zwischen den Ost- und den Westdeutschen immer noch recht groß ist und das Selbstverständnis von Ausländern, die die deutsche Staatsbürgerschaft erworben haben, mit berücksichtigt werden muss.

In den beiden letzten Kapiteln befasst sich Elisabeth Beck-Gernsheim mit zwei Erinnerungslandschaften: mit der Erinnerungslandschaft Afrika und der heutigen jüdischen Kultur in Deutschland. Als in den fünfziger Jahren Zuwanderer aus der Karibik nach Großbritannien kamen, sahen sie die englische Insel als ihr Heimatland an und Englisch als ihre Muttersprache. Sie hatten auf Anerkennung und Unterstützung durch die Einheimischen gehofft. Seit damals hat sich die Situation allerdings so grundlegend geändert, dass die Zuwanderer mittlerweile eine eigenständige, in sich homogene Kultur der Karibik entwickelt haben. Doch was feiern sie wirklich bei ihren Straßenfesten? Afrika? Karibik? Großbritannien? Vielleicht von allem etwas. Ähnlich verhalten sich schwarze Amerikaner, die plötzlich nach Afrika reisen, um dort anzuknüpfen, wo die Vorfahren noch ihre Kultur, ihr Wissen und ihre Traditionen besaßen. Nicht selten ist ihr Afrika-Bild sentimental eingefärbt und entspricht kaum der Realität.

Bei dem Stichwort jüdische Kultur in Deutschland denken Nichtjuden an Klezmer-Musik, an Ostjuden, an Bankiers, Warenhausbesitzer oder an Genies wie Sigmund Freud und Albert Einstein. Viele nichtjüdische Deutsche interessieren sich heute aus unterschiedlichen Motiven für die jüdische Kultur. Auch Juden bemühen sich häufig, ihre Wurzeln ausfindig zu machen. Aber nicht wenige von ihnen werden zu ihrem Missvergnügen über Gebühr von Nichtjuden für jüdische Themen in Anspruch genommen. Hier spielt vielerlei eine Rolle, zum Beispiel ein Stück imperialistische Nostalgie, vergleichbar den Gefühlen der Kolonisatoren und Eroberer, die durch Afrika ziehen und das, was sie dabei zerstören, anschließend betrauern. "Erst haben sie uns umgebracht, und dann wollen sie wissen, wen sie umgebracht haben", sagt ein amerikanischer Jude zu diesen Vorgängen.

Die Autorin hat sich unterschiedlicher Quellen und Materialien bedient, wissenschaftlicher Studien, historischer Analysen, demographischer Daten. Sie hat aber auch autobiographische Texte benutzt, Medienberichte und Ausschnitte aus der Literatur, wobei sie selbst vor der Populär-Literatur nicht Halt gemacht hat. Sie zeigt, wie Paragraphen, Verordnungen, Gesetze in das Leben von Menschen eingegriffen haben, ihnen Chancen oder Gefahren zuteilten, wie Überlebensstrategien entwickelt und Auswege gesucht wurden und welche Gefühle und Hoffnungen, Ängste und Leiden die Menschen dabei bewegten. Da sie immer wieder subjektive Schicksale in den Vordergrund stellt, statt sich mit der Darstellung abstrakter Modelle und Zahlen zu begnügen, wirken ihre Ausführungen lebendig und anschaulich.

So ist Elisabeth Beck-Gernsheim das Kunststück gelungen, wissenschaftlich fundierte Aussagen in verständlicher, ja geradezu spannender Weise zu präsentieren, ohne indessen populistisch zu werden, ohne die Themen zu banalisieren oder zu simplifizieren oder Bewegungen und Begriffe gegeneinander auszuspielen, wie etwa den der Nation gegen den der Multikultur.

Titelbild

Elisabeth Beck-Gernsheim: Juden, Deutsche und andere Erinnerungslandschaften. Im Dschungel der ethnischen Kategorien.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
281 Seiten, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3518410741

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch