Der Bundeskanzler ist göttlich

Eine Einführung in die Semiotik

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer Zeit, in der die Medien die Tendenz haben, sich selbst zu vervielfältigen, in der von einer Kommunikationsgesellschaft gesprochen wird, bedarf es einer Theorie der Kommunikation. Eine Basistheorie für jede Kommunikation ist die "Semiotik", die Lehre von den "Zeichen". Semiotik im Verständnis von Michael Müller und Hermann Sottong ist eine Theorie über die "Semiosphäre", also den Raum, in dem Äußerungen produziert und Mitteilungen gemacht bzw. Botschaften übermittelt werden.

Mit Jean Piaget grenzen Müller/Sottong den Zeichengebrauch ein: Zeichen gibt es nach ihrer Definition nur in sozialen, sprich kommunikativen Kontexten. Die Semiotik wird dabei auf das zurückgeführt, was sie eigentlich ist: eine allgemeine Theorie für alle mit Kommunikation befassten Disziplinen.

Müller/Sottongs Einführung in die Semiotik der Kommunikationsgesellschaft hat Lehrbuchcharakter. In grundsätzlicher, gut verständlicher Weise werden hier die Voraussetzungen einer allgemeinen Theorie der Zeichen erörtert. Die wichtigsten Zwischenergebnisse und die Basispostulate werden in grau unterlegten Textpartien optisch hervorgehoben und einprägsam auf den Punkt gebracht. Grau unterlegt ist auch die Literatur-Diskussion: So kann sich jeder Lerner selbst prüfen, wie weit er den Autoren gefolgt ist.

Zu Beginn ihrer Darstellung betonen Müller/Sottong die Kulturrelativität von Zeichen: Zeichen und Kodes sind Setzungen und damit "arbiträr". Sie sind wandelbar und müssen sich wandeln. Dies unterscheidet sie etwa von "Anzeichen" oder bestimmten, "zwingenden" Symptomen: kein Feuer ohne Rauch, keine Röteln ohne Rubeolae. "Rauchzeichen" sind daher streng genommen nur dann Zeichen, wenn sie als "Äußerungen" verstehbar sind. So haben sich Indianerstämme die Rauchentwicklung bei Feuer zunutze gemacht, um sich über weite Entfernungen zu verständigen. Aber nicht der Rauch an sich war zeichenhaft, sondern die künstlich erzeugte, sequentielle Folge und Formation der aufsteigenden Rauchwolken. Die Verstehbarkeit (Interpretierbarkeit) dieser Rauchzeichen war an kulturelle Normen und an äußere Faktoren (Witterungsbedingungen etcetera) gebunden.

Der kulturelle Raum, die Semiosphäre (analog zu Biosphäre gebildet), ist von sprachlichen Äußerungen, visuellen Zeichen-Folgen (z. B. Ampeln) und komplexen Kombinationen verschiedener Kommunikationsmittel geprägt: Die "mediale Ebene unserer Kultur wächst quantitativ an". Besonders komplexe Zeichensysteme sind künstlerische Äußerungen wie Literatur und Film, Theater und Oper. In der Oper kann potentiell alles, was auf der Bühne zu sehen und im Konzertsaal zu hören ist, zeichenhaft sein: Sprache, Musik, Bewegung, Mimik, Gestik, Kostüme, Requisiten, Licht, Farben, die räumliche Ausgestaltung des Theaters usw.

In künstlerischen Äußerungen tritt ein Phänomen häufig auf, das Müller/Sottong in einem eigenen Kapitel behandeln, das "Äquizeichen". Äquizeichen sind Zeichen, die per se nichts bedeuten, aber durch den Kontext semantisiert werden. In "The Sixth Sense" beispielsweise wird die Farbe Rot strategisch eingesetzt, um dem Zuschauer zu signalisieren, dass Haley Joel Osment sogleich eine Geistererscheinung haben wird. Äquizeichen heißt diese semiotische Aktivierung der Farbe Rot, weil sie nur in diesem Kontext funktioniert. Gleich anschließend, nach Ende der Vorstellung, können wir in unseren roten Wagen steigen, ohne eine Begegnung mit Toten fürchten zu müssen.

Die innere Struktur der Semiosphäre ist so beschaffen, dass bestimmte Objekte oder Handlungen in bestimmten Kontexten als Kommunikationsmittel dienen, in anderen nicht: "andere Kommunikationsakte ändern ihre Bedeutung je nach dem Kontext, in dem sie auftauchen". Da Zeichen innerhalb der Semiosphäre kontextuell semantisiert sind, müssen wir sie interpretieren. Damit wir sie zutreffend interpretieren können, müssen wir die "kulturellen Muster" kennen, nach denen sprachliche Äußerungen erfolgen.

Nicht nur die Eingrenzung von Kommunikation im semiotischen Sinne ist von zentraler Relevanz für eine allgemeine Theorie der Zeichen, sondern auch die Bestimmung der äußeren Grenzen der Semiosphäre. Ein Merkmal, das der "Wahl" bzw. der "Arbitrarität", wurde bereits dargestellt. Ein zweites Merkmal ist das der Funktion. Die semiotische Kommunikation hat den Sinn der Verständigung über "Realität" - bzw. das Ziel der gemeinsamen "Konstruktion" von Realität. So ist die Aufklärung von der Isomorphie von Sprache und Realität ausgegangen. Diesem Isomorphie-Postulat verdanken wir unter anderem eine besonders elaborierte Gattungstheorie, in der jedem Begriff (zum Beispiel "Epigramm", "Hymne", "Kritik", "Lehrgedicht", "Ode", "Satire") auch ein eigener Texttyp und eine eigene Bestimmung zugeordnet sein musste. Heute können wir unterscheiden zwischen einem Signifikanten (dem materiellen Aspekt des Zeichens, etwa der Lautfolge "Novelle"), dem Signifikat (der Bedeutung des Zeichens) und dem Referenten, dessen Existenz oder Nichtexistenz die Relation von Geste (Signifikant) und Bedeutung (Signifikat) nicht berührt - man denke an das Beispiel des Einhorns.

In ihrem Kapitel "Bilder und Zeichen: Abbildungen" stellen Müller/Sottong drei Typen von semiotischen Phänomenen vor, die in "Bildern" vorkommen können: Zeichen, Äquizeichen und Abbildungen. Bilder sind dabei per definitionem durch einen "Rahmen" begrenzt. Zeichen können in Schriftform auftreten (etwa in Collagen von Miró oder Magritte), als ikonographische Zeichen (in der christlichen Ikonographie etwa das Auge Gottes als Dreieck) oder als Piktogramme. Diese Zeichen müssen auch außerhalb des Bildes kulturell kodiert sein, um als Zeichen erkennbar und verstehbar zu sein. Das zweite Phänomen sind Äquizeichen, die allgemein kulturell keinen Zeichenstatus besitzen, aber innerhalb eines künstlerischen Œuvres, innerhalb einer "Aktion" oder Künstler-Gruppe zeichenhaften Charakter annehmen können.

Eine wichtige Unterscheidung betrifft den Begriff der "Referenz". Auf der Basis einer "gemäßigt konstruktivistischen Position" plädieren Müller/Sottong dafür, den Begriff der "Referenz" von seinem ontologischen Status zu befreien, den er in den meisten semiotischen Theorien (noch) besitzt. Denn worauf sich ein Zeichen beziehen kann, ist abhängig von der Realitätsklassifikation einer Kultur, von dem, was eine Kultur als existent oder nicht-existent definiert. Das Zeichen tritt nicht in Relation zu einem Referenten, sondern zu einer Äußerung, deren (In-)Adäquatheit an der Realitätskonzeption gemessen wird. Das Objekt kann nicht mehr in den Zeichenbegriff einbezogen werden, und folglich tritt an die Stelle des Referenten das Referenzpostulat, das durch die drei Werte "gibt es", "gibt es nicht" und "unentschieden" definiert ist.

In weiteren Kapiteln erörtern Müller/Sottong den Modus von Äußerungen und gehen dann im zweiten Teil ihres Buches auf die Konstruktion sekundärer (modellbildender) Systeme ein - auf die Bildung "künstlerischer Welten". Sie interpretieren ein Gedicht Paul Wührs ("Namen") und untersuchen das Verhältnis von Semiotik und Gesellschaft: Gesellschaft konstituiert sich durch Kommunikation, ohne semiotische Systeme ist keine Orientierung in der Gesellschaft möglich. Je komplexer Gesellschaften werden, desto feiner erfolgt ihre Ausdifferenzierung durch Zeichen. Soziale Gruppen unterscheiden sich von anderen sozialen Gruppen durch ihr Zeichenhandeln, wobei der internen Differenzierung des Kodes potentiell keine Grenzen gesetzt sind; die "soziosemiotischen Tendenzen der Gegenwartskultur" bezeugen die Notwendigkeit einer modernen Zeichentheorie, die es erlaubt, die zunehmende Differenzierung im Kleidungs- und Konsumverhalten, bei Accessoires und sonstigen gruppenspezifischen Äußerungsformen theoretisch zu erfassen und modellhaft darzustellen - denn sie dient der Selbstverständigung einer Kultur: "Immer ist Grenzziehung die Voraussetzung sowohl für die Genese als auch für die Wahrnehmung von Systemen."

Titelbild

Hermann Sottong / Michael Müller: Zwischen Sender und Empfänger. Eine Einführung in die Semiotik der Kommunikationsgesellschaft.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 1998.
219 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3503049029

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