Fotografisches Dienstmädchenauge

Helen Humphreys Roman "Das Abbild"

Von Helmut KretzlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Kretzl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

England im Jahr 1865, zur Zeit Königin Victorias. Das Dienstmädchen Annie wechselt ihre Dienstgeber. "Und genau wie sie es sich vorgestellt hat, taucht hinter einer Kurve in dem staubigen, von Furchen durchzogenen Weg das Haus auf. Sie bleibt stehen. Da ist es, eher verfallen als prächtig. Groß und breit, aber eindeutig vernachlässigt. Die Sträucher vor dem Haus sind in die Höhe geschossen und verbergen mit ihren Blättermassen die Sicht auf einige Fenster im Erdgeschoß. Im Obergeschoß bröckelt schon der verwitterte Stein ab."

Bei ihren neuen Herrschaften lernt Annie einen anderen Wertekanon kennen: Nicht mehr die Religion steht hier im Mittelpunkt, sondern die Kreativität, die Abbildung der Welt durch die Fotografie (durch Isabelle) oder durch Landkarten (durch ihren Mann Eldon). Bald erkennt Isabelle die Fähigkeiten ihrer neuen Angestellten - "Sie ist klug, dieses Hausmädchen, aufgeweckter jedenfalls als alle bisherigen", bald zieht sie sie als Modell für ihre Fotos heran. Das einfache, aber wissbegierige Mädchen aus Irland gibt der Fotografin frische Impulse und regt sie zu neuen Sichtweisen an. Als Annie selbst ein Bild machen darf, weiß sie die Mittel des jungen Mediums besser einzusetzen als Isabelle: Sie fotografiert ihre Herrin von ganz nah und lässt den Rest in der Unschärfe verschwimmen.

Annie wird dem ungewöhnlichen Paar schon bald zum Katalysator für schöpferische und kreative Prozesse. Für die Hausherrin ein "anstelliges" Motiv, wird Annie parallel dazu zur geheimen Verbündeten von Eldon, den sie bei seinen Phantasiereisen durch die Arktis begleitet, bis sie ihn eines Morgens vor dem Erfrieren im Garten rettet. Zugleich befreit sie sich selbst aus dem dumpfen Dienstmädchenschicksal, das ihre Kolleginnen erleiden. Freilich kann auch Annie selbst in der "anderen" Welt nicht wirklich Fuß fassen, ebenso wenig wie Eldon oder Isabelle.

Wir wohnen der Entwicklung berühmter Fotos von Julia Margaret Cameron bei, dem unverkennbaren Vorbild für die Figur der Isabelle. Ihrem künstlerischen Weg als Autodidaktin gilt die ganze Aufmerksamkeit, von der Inszenierung und Nachahmung antiker "klassischer" mythologischer Motive wie der Dichterin Sappho, Shakespeares Ophelia, Guinevere, der Frau von König Artus bis hin zur Madonna. Erst auf Anregung ihres Dienstmädchens beginnt sie ihre Heroinen zu hinterfragen: "Fühlt sie sich zu diesen Geschichten zum Teil deshalb hingezogen, weil sie so oft von männlichen Künstlern geschaffene Darstellungen davon gesehen hat? Vielleicht sollte sie sich als Frau diesen Geschichten widersetzen, sie nicht bereitwillig annehmen?" Erst am Schluss dieser Entwicklung steht das Bemühen um das reale Abbild des Menschen selbst.

Humphreys hat einen Künstler- und Entwicklungsroman geschrieben, der durchdrungen ist von einer warmen Weiblichkeit. In Freud'scher Tradition deutet sie den Schaffensprozess als Kompensation für den unerfüllten Kinderwunsch, wobei sie auch die sozialen Zusammenhänge thematisiert und insbesondere die Rolle der kreativen Frau. Damit wird der Roman moderner, als er auf den ersten Blick scheint. Bravourös schildert die Autorin das Aufbäumen gegen tradierte Rollenbilder und gesellschaftliche Zwänge, auch wenn dieses letztlich vergeblich bleibt. Dass sie bei aller Einfühlung das Abgleiten in die Sentimentalität vermeidet, ist die eigentliche Leistung der jungen Kanadierin.

Titelbild

Helen Humphreys: Die Abbildung.
Aus de Englischen von Stefanie Schaffer-DeVries.
Residenz Verlag, Salzburg 2000.
288 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3701712204

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch