Leben in einer Welt der Farben

Kirsten Johns Roman "Schwimmen lernen in Blau"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Katharina lebt, denkt und fühlt in Farben. Schon als Kind lagen ihr die Farben näher als die Worte, und sie erschuf sich malend ihre eigene Welt, aus einem naiven kindlichen Blickwinkel. Eine gewisse Naivität hat sich die introvertierte Katharina auch später als Kunststudentin bewahrt. Während ihre Kommilitonen pseudo-philosophisch über das "Ende des Aquarells" debattieren, verkriecht sie sich ins Schneckenhaus und sinniert über die Bedeutung der Farben: "Ich will alle Farben zum Schwimmen und so viel Blau, dass ich darin ertrinken könnte."

Kirsten John (Jahrgang 1966) hat in ihrem Romandebüt Katharinas Geschichte ebenfalls wie ein Gemälde angelegt. Klare Linien und verschwommene Impressionen stehen nebeneinander, und diverse Schichten überlagern sich und legen neue Eindrücke frei. Kindheitserinnerungen werden mit Gegenwärtigem vermischt. "Es gibt Linien, die man nicht übermalen darf, und dann gibt es noch das Verschwimmen." Als klare Kontur taucht immer wieder eine unverstandene, an ihren nächsten Mitmenschen verzweifelnde Protagonistin auf, eine zur Melancholie neigende Figur, die sich bei starkem Regen am wohlsten fühlt.

Als Kind war ihr das Familienoberhaupt wegen seines autoritären Gehabes und seines fast militärischen Disziplindünkels verhasst: "Nie würde ich den Vater malen." Doch auch später an der Seite des bekannten Malers und Kunstprofessors Henning Overland findet sie nicht die gesuchte "Linie". Zunächst ist sie stolz, dass sie einen Studienplatz bei der Koryphäe erhält, dann kommen sich die beiden näher und heiraten. Doch Overland entpuppt sich immer mehr als geltungssüchtiger "Betrüger". Er verkauft Katharinas Bilder unter seinem Namen, mehrt Wohlstand und Ruhm und nimmt sich eine Geliebte. Katharinas Wunsch nach einem Leben mit und in der Kunst entwickelt sich mehr und mehr zur Lebenslüge, als Versuch, die familiäre Vergangenheit hinter sich zu lassen. Die Trennung der Eltern durchlebt sie selbst aufs Neue, als sie Overland verlässt.

Ausgerechnet durch ihre in alle Himmelsrichtungen verstreute Familie erhält sie neue künstlerische Impulse. Blau, darin ertrinkt man und weiß, darin vergeht man, waren ihre bevorzugten Farben, ehe sie durch ihre Brüder eine wundersame Erweiterung ihrer Farbpalette erfährt. Paul sitzt im Gefängnis, und Frank ist inzwischen Soldat. Hier muss ein Veto erlaubt sein, denn Frank hat als Kind ein Auge verloren und dürfte damit für den Militärdienst untauglich sein. Die Komplementärfarben grün und rot erschließen sich für Katharina aus den Lebenswegen ihrer Brüder, ohne dass man mit dieser Form der Bewusstseinserweiterung gleichzeitig die Hoffnung verbinden kann, dass sie nun eine klare Lebenslinie gefunden hat.

Kirsten John hat in diesem Roman ein desillusionierendes Wortgemälde über den gescheiterten Versuch der Realitätsaneignung durch die Kunst gezeichnet. Parallel zu Katharinas Suche nach neuen Farben bewegt sich auch der Erzählstil der Autorin zwischen klaren, nüchternen Sequenzen und bisweilen verschwommenem Pathos. Zurück bleibt ein in einem Mischton gehaltenes Bild. Zwischen Ertrinken (blau) und Vergehen (weiß) - ein Hilfeschrei in hellblau.

Titelbild

Kirsten John: Schwimmen lernen in Blau. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2001.
223 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3421054460

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