Kleine Nachdenkerei über Poesie

Christoph Wilhelm Aigners "Engel der Dichtung"

Von Charlotte IndenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Charlotte Inden

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wollten wir es nicht schon immer wissen? Am liebsten noch aus erster Hand erfahren? Was meinen diese Verse, was steht zwischen diesen Zeilen, was will uns der Autor hiermit sagen?

Christoph Wilhelm Aigner liefert Antworten, sendet den "Engel der Dichtung". Schickt sein Alter Ego auf eine Lesereise - und siehe, Reisen bildet auch hier.

Wenn Engel reisen - dann taucht entweder Sonne aus Wolkenmeer auf oder Forscherdrang im Wanderer. Im Innersten dieses Dichters, der durch die deutschen Lande tourt und sich konfrontiert sieht mit Fragen wie: was ist ein Gedicht?

So oft diese Frage auch schon gestellt wurde, die Antwort zu geben, ist noch immer schwierig. Besonders für den Dichter. Erste Annäherung: Nein, es muss sich nicht reimen. Das wussten wir. Aber der arme Lesereisende wird trotzdem gefragt. Bei dieser Zumutung weinen die Englein im Himmel.

Dicke Tropfen fallen auf die Erde, "Regensträhnen halbfett kursiv." Unser Dichter wohnt dem Schauspiel bei und es ist schon wieder geschehen, ein neues Werk ward geboren.

Es darf sich reimen, wenn es das will, dieses neue Gedicht. Denn ein Gedicht, das lernen wir, das musste auch der Dichter lernen, ein Gedicht ist ein lebendiges Wesen und tut, was es will. Wenn es also will, dann reimt es sich.

Wenn man es lässt, dann wird es auch gut. Durch Absichten verdreht entstehen verbogene Gestalten, "sie haben statt Haltung ein Verhalten." Lesen wir und schütteln uns vor Genuss: "Engel der Dichtung" liest sich wie Gedichte zu süßer Prosa auseinander gezogen. Das fällt zuerst auf: der Mann kann dichten. Er kann es so gut, dass ihm selbst die Prosa verdichtet gerät. Und auch wenn dichte Sprache nicht mit Dichtung verwandt sein muss, hier ist sie es.

Diese Sprache trägt kein "Rouge auf der Gedanken Blässe". Wir warten ungeduldig auf den nächsten Satz mit Klang, finden ihn, schaudern, und entdecken dann sogar ein wenig unverfälschte Poesie. Kleine Kostproben machen Appetit auf mehr.

Wir erfahren sogar, wie sie entstanden sind, diese Verse. Der Meister lässt sich endlich in die Karten gucken und erscheint noch genialer als zuvor. Wir wissen nun, was diese Verse meinen, und was zwischen diesen Zeilen steht, aber ihren Zauber haben sie nicht verloren. Das ist dann wohl wahre Kunst.

Und wahres Leiden. Das verklärte Bild des musengeküssten Genies stimmte noch nie so wenig wie hier. Ehrenwort, es ist ein Fluch, Künstler zu sein, werden wir versichert. Unser Dichter ist beziehungsunfähig, denn er lebt und atmet Dichtung. Alles, was er an Gefühlen und Kraft und an Liebe in sich findet, fließt in die Dichtung, wird Dichtung. Da bleibt nichts übrig.

Zwischen den Nachdenkereien wartet ein wenig Handlung, in deren Verlauf es geschieht, dass Dichter auf "Schutzengel" trifft. Und dass er bei dieser Verklärung stecken bleibt. Gerade wollen wir trauern und ihm eine kusswütige Muse wünschen, da lesen wir, dass er entschädigt ist, unser Dichter. "Außerdem schreibt man nicht mit vollgeküsstem Mund", erklärt er. Wir sind auch entschädigt, schöner Satz.

Gedichte sind der Dichter Kinder. Sie sind auf den richtigen Weg zu bringen, mit Zuneigung, das ist wichtig, doch dann sind sie sich selbst überlassen. Und begegnet ihnen später jemand und sagt, ich verstehe dich nicht, dann ist das vielleicht sogar der Dichter selbst.

Bei ihrer Geburt aber gewähren seine Gedichte ihm einen Augenblick der reinen Wahrheit. Das ist wie heller Stern in dunkler Nacht, wie das Licht der Erkenntnis, das ist das reine Glück. Dieses Gefühl schenkt sonst nur die Liebe und das auch nur manchmal.

Ja, wir sind auch entschädigt, denn dasselbe Glücksgefühl kann dem widerfahren, der sich einem Gedicht nähert. Sich ihm öffnet ohne böse Absichten. Dann schenkt es etwas zurück, weiß der Dichter.

Da wir also nicht schreiben können wie Aigner, werden wir Aigner lesen. Und zwar seine Gedichte. "Engel der Dichtung" hat mit Poesie im Prosamantel, ob gewollt oder nicht, das Verlangen nach reinen Aigner-Versen geweckt. Und selbst wenn wir schreiben können wie Aigner, sollten wir Aigner lesen. Denn wie die Appetithappen beweisen: seine Dichtung ist überirdisch schön.

Titelbild

Christoph Wilhelm Aigner: Engel der Dichtung.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000.
158 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3421053995

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch