Das Fest beginnt

Bettina Gundermanns Debüt fasziniert auf eine ungemein schockierende Weise

Von Patricia NickelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patricia Nickel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Lines" ist ein gewagtes, beeindruckendes Buch, das die Gratwanderung zwischen Perversion und Faszination riskiert. Der Leser wird in einen Strudel von geschickt aneinander geketteten Lebensgeschichten gezogen, die erzählt werden von jemandem, der nur als "der Gastgeber" erwähnt wird. Dieser berichtet dem "Gast" in einem ständig zugekoksten Zustand, was aber nicht verwirrend, sondern absolut spannend ist. Der Leser, vielleicht der Gast, wird angesprochen, beschimpft, umschmeichelt und "verarscht". Nie ist sicher, was als nächstes geschieht, alles überrascht.

In schöner Regelmäßigkeit meldet sich der Erzähler zu Wort, einerseits das Handeln seiner Figuren, dann sein eigenes und das seines unbekannten Gastes kommentierend.

Nicht zuletzt durch diese Einwürfe gewinnt Gundermanns Erzählung ihren verführerisch-provozierenden Charakter. Dies trifft zu auf die Drogenexzesse des Liebespaares oder die vorschnelle Verurteilung der Charaktere, wenn eine mal spöttisch-saloppe, mal eher elegische Stimme den Leser selber anspricht: "Könntest du bitte aufhören, deine verdammte Stirn zu runzeln? Paula ist ein Mensch. Hast du das vergessen? Du solltest vorsichtig sein mit den Urteilen, die du fällst... So groß ist ihr Selbsthass an diesem Morgen. Zufrieden? Alles wieder in Ordnung mit deiner Stirn?"

Der Gast besucht den Erzähler auf seinem Schloss, um dort hinter das Geheimnis der weißen Linie zu kommen, die sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch "zieht". Immer wieder werden Drogen in Unmengen konsumiert. Die Autorin vergisst dabei jedoch nie die Folgen, wie Paranoia, auf eine ungemein realistische Art und Weise zu beschreiben.

In kurzen, prägnanten Sätzen wird Schlag auf Schlag berichtet, häufig mit sarkastischem Unterton. Die Sprache ist sehr derb; es wird mit vielen Zeitsprüngen und Rückblicken erzählt, in denen sich der Leser dennoch nicht verliert.

Die Einleitung wirkt wie eine Einverständniserklärung, die der Gast unterschreiben muss, wobei er auf die Folgen hingewiesen wird.

Das kleine Buch mit seinen gerade einmal 142 Seiten ist, ohne die Einleitung, in den klassischen Dreischritt bestehend aus Geburt, Leben und Tod unterteilt.

Häufig wechselt der Erzähler seine Perspektive, mal wird über die einzelnen Personen berichtet, mal berichten diese selbst. Gedanken werden erzählt: Paula beispielsweise denkt über die Geburt ihres Sohnes nach, dem sie aus Mangel an Muttergefühlen keinen Namen geben kann. Außerdem wird von dem Kind Pedro berichtet, das seine kranke Existenz im Müllcontainer beginnt. Es kommt Rebeccas Junkie-Mutter Anne zur Sprache, die ihre Tochter sucht, sie aus dem Kinderheim stiehlt, erwischt wird und schließlich auf dem Klo ihres Dealers an einer Überdosis Heroin zugrunde geht. Rebecca, das Drogenkind, wird ständig von ihren Pflegeeltern zurückgebracht und landet schließlich in einem Heim für schwer erziehbare Kinder, wo sie mit zehn Jahren entjungfert wird. Die Schicksale der jungen Menschen kreuzen sich verhängnisvoll und sie alle müssen letztendlich scheitern.

Sehr konzentriert gestaltet Gundermann die Verknüpfung der einzelnen Charaktere. So begegnen sich Rebecca und Pedro, in einer für sie das Leben verändernden Nacht, doch diese Liebe ist nur von kurzer Dauer und bringt schließlich den Tod, auf den der Erzähler gezielt hinarbeitet. In einer fast biblischen Erzählweise berichtet der Gastgeber von einem Mord. Nie wird jemand glücklich in diesem Buch: Meik erstickt an der Liebe seiner Mutter, Mara hat das viele Geld von Georg nicht befriedigt, und die Zweisamkeit des jungen Paares hält nicht lange an.

Zwischendurch lässt Gundermann fantastische Elemente einfließen, die die Halluzinationen der Drogenkonsumenten darstellen und dabei zu witzigen Einsichten führen. Wie zum Beispiel die fliegende Elfe: "Ich hoffe, du weißt, was du tust", flüstert die Elfe und flattert vor dem Gesicht des Tanzenden, während der Gastgeber sich auf der Toilette inzwischen wild einen runterholt. "Nie wusste ich es besser!" brüllt der Tanzende schwitzend und bebend..."Jetzt wirst du nie wieder der Alte sein", grinst die Elfe, während sie ihr winziges Kleidchen abstreift und nackt weiterflattert... Surrealistisch und zugleich boshaft-witzig versteht es Gundermann, den Leser spannend zu unterhalten.

Was bleibt? Einsamkeit und zunächst Resignation, schließlich in einer märchenhaften Art und Weise ein Finale, das überrascht, und das Buch zu einem unvergesslichen Trip in die Unterwelt der Drogenerfahrung für den Leser werden lässt, ohne dass er einmal an der weißen Magie geschnuppert haben muss.

Titelbild

Bettina Gundermann: Lines.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2001.
142 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3627000803

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