Autonomie der Ästhetik

Annäherungen an die nebulöse Kunst

Von Yvonne MesserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvonne Messer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fragen nach dem Wesen der Schönheit und ihrer Wirkung dürften immer wieder aufblitzen, während man in die Betrachtung eines Kunstwerks versunken ist. Die vorliegende Aufsatzsammlung trägt den Titel "Der schöne Schein der Kunst und seine Schatten", was bereits erahnen lässt, dass solche Überlegungen zu keinem klaren Ergebnis führen. Die Festschrift anlässlich des 60. Geburtstages von Rolf-Peter Janz umkreist den kontroversen Kunstbegriff von verschiedenen Blickwinkeln aus. Dabei werden plastische Beispiele aus der Welt der Künste mitgeliefert.

Thomas Koebner macht "Vermischte Beobachtungen" über Grazie und Anmut, um zu ergründen, auf welche Art der Betrachter beim Anblick von Giorgiones Gemälde "Schlafende Venus" angerührt wird. Mit einem Brückenschlag zur aktuellen Filmkunst gelingt es ihm, einleuchtend darzustellen, warum der Zuschauer in Wim Wenders'"The Million Dollar Hotel" den graziösen Sprung des Helden in die Tiefe als einen sich selbst bewusst werdenden Befreiungsschlag empfinden muss.

In seinem Aufsatz über Alfred Hitchcocks "Vertigo" veranschaulicht Fabian Stoermer die filmsprachlichen Mittel, mit denen der schwindelerregende Taumel entsteht, den abgründige Ängste hervorrufen können. Der Protagonist wird Opfer von Manipulationen, die er aufgrund seiner liebenden Augen nicht zu durchschauen vermag. Der schöne Schein der Geliebten lässt ihn immer mehr im trügerischen Sog seines Wunschdenkens versinken. Es bleibt fragwürdig, ob nach der Entzauberung der realen Begebenheiten der Weg in die Wirklichkeit ohne Projektionsflächen für Illusionen frei gewesen wäre.

Inwieweit ist die Wahrnehmung eines Menschen nun von seinen Träumen und Idealen durchdrungen? Wie sähe eine von ihnen "gereinigte" Realität aus, und könnte es dann Kunstformen geben, die keine Augenwischerei betreiben? Sucht man in ihnen nicht auch bewusst nach einer Realität mit weniger groben Konturen? Baudelaire hält in seinem Gedicht "A une passante" die wachsende Anonymität in tristen Großstädten fest, wo man inmitten der Massen blitzartig und wehrlos der Sehnsucht nach dem schönen Schein nachgibt.

Die schillernden Konturen des schönen Scheins, der von einem Kunstwerk ausgehen kann, neigen oftmals dazu, den Bezug zur Wirklichkeit gänzlich zu verwischen. Welche Sinne unserer Wahrnehmung gilt es nun zu schärfen, wenn darüber zu urteilen ist, ob man sich dem Reich der Realität oder einem Phantasiegespinst annähert?

Um die Beispiele aus der Welt der Literatur nicht zu kurz kommen zu lassen, verweist Martin Swales auf deutsche Romane mit scheinbar utopisch-verzerrten Schlüssen, wie Thomas Manns "Zauberberg" und Hermann Hesses "Steppenwolf", in denen sonderbare Scheinhaftigkeit viele Fragen offen lässt. Auch hier wieder eine schattige Künstlichkeit? Wie konstituiert sich der schmale Grat zwischen der Erlebniswelt eines Künstlers und den Ausdrucksformen in seinem Werk? In welchen Sphären entfaltet sich eigentlich die Wirkung eines Gedichtes oder eines Bildes? Es ist zumeist strittig, ob die Kunst Phänomene verklärt oder möglichst lebensnah darzustellen versteht. Hinzu kommt die Gefahr, subjektive Eindrücke eines Dichters oder Malers vorschnell entschlüsseln zu wollen, ohne zu berücksichtigen, dass es sein Kunstwerk womöglich darauf anlegt, Rätsel aufzugeben. Ein Rezipient ist also gefordert, stets von neuem den Grenzbereich zwischen beabsichtigter Inszenierung, die sich mitteilen will, und geheimnisvoller Verschwiegenheit auszuloten.

Anke Bennholdt-Thomsen richtet mit Fontanes "Oceane von Parceval" ihr Augenmerk auf den Blick ohne jede emotionale Beteiligung. "Das gefühllose Schauen als höhere Lebensform"? Das hätte Scottie Ferguson in "Vertigo" vor den üblen Verstrickungen einer Instrumentalisierung seiner Sinne bewahrt. Wie stünde es dann aber um seine Begeisterungs- und Liebesfähigkeit?

Einen Schritt weiter führt Bernd Hüppauf, der zu bedenken gibt, dass "Das dunkle Licht im Raum zwischen Leib und Himmel" eine Gleichzeitigkeit von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit möglich macht. Manchmal kommt es in Kunstwerken auch zu "Implosionen des Sinns und Ekstasen der Gewalt" - so der Titel von Hans Richard Brittnachers Aufsatz. Beispiel hierfür ist die Prosa Heinrich von Kleists. Die schöpfende Kraft fließt hier aus einer radikalen Entgrenzung und aus Widerstandsbestrebungen gegen erstarrte Gesellschaftsformen heraus.

Dies war nur ein Fingerzeig auf eine kleine Auswahl der im Buch enthaltenen Essays, deren Themenzusammenhang sich als schlüssig erweist. Die gewählte Rubrizierung in fünf Kapitel eröffnet schrittweise und immer eindringlicher die Mahnung: Nichts ist so wie es scheint. Die kurzen Zusammenfassungen der Texte in der Einleitung präsentieren bereits deren Kernaussagen, ohne zu viel vorwegzunehmen. Im Schlussteil finden sich kurze Informationen über die mitwirkenden Autoren, die ihre Beiträge für diese Aufsatzsammlung geliefert haben.

Schliesslich wird auch der Bezug zu Rolf-Peter Janz hergestellt, dem das Buch gewidmet ist. Seine kritische Auseinandersetzung mit der scheinbaren Autonomie der Ästhetik erfolge im Bewusstsein historischer und sozialer Hintergründe, so die Herausgeber in ihrer Einleitung. Die am Ende des Buches erstellte Auflistung von Janz' Schriften erhellt hierbei noch zusätzlich die zahlreichen Verweise auf seine literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die in den Essays immer wieder zu finden sind. Rolf-Peter Janz, u. a. Verfasser einer opulenten Nietzsche-Biographie und Herausgeber und Kommentator von Schillers "Theoretischen Schriften", verschreibe sich den Initiatoren der Festschrift zufolge einer Interpretationsmethode, die sich an dem Faszinosum Schönheit mit ihrer implizierten Fremdheit orientiere.

Die Essays bündeln eine reichhaltige und vielfältige Auswahl an sich gegenüberstehenden Sichtweisen auf die Kunst und ihren schönen Schein. Manch einer möchte verklären, andere wiederum streben in ihren Kunstwerken den größtmöglichen Wahrheitsgehalt an. Man schließt das Buch mit einem wacheren Feinsinn für kontroverse Kunstauffassungen und für unterschiedliche Geschmacksbildungen zu verschiedenen Zeiten.

Titelbild

Hans Richard Brittnacher / Fabian Störmer (Hg.): Der schöne Schein der Kunst und seine Schatten.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2000.
408 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3895282944

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