Fluchtweg aus der Einheitskiste?
Michael Schindhelms Erfahrung vom "Zauber des Westens"
Von Julia-Charlotte Brauch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseTheater ist die Kunst der Verwandlung. Diese Wahrheit hat der Intendant des Theaters Basel, Michael Schindhelm, nur auf Umwegen und nicht unbedingt im Theater gelernt. Denn das Leben des ehemaligen DDR-Bürgers ist nicht erst seit der Wende immer wieder radikalen Brüchen ausgesetzt. In seinem persönlichen Rückblick "Zauber des Westens" schildert er seinen eigenen Werdegang vom Quantenchemiker zum Theaterintendanten - inzwischen bei der vierten Bühne. Ein Karriere, die sich ohne die deutsche Einheit sicherlich anders entfaltet hätte. Aus der Rolle des Außenseiters reflektiert Schindhelm über die turbulente Geschichte der jüngsten Vergangenheit. Dabei stellt er Frage um Frage und gibt dem Leser teils verblüffende Denkanstöße, die erst aus seiner räumlichen wie zeitlichen Distanz, vom Fluchtpunkt Schweiz aus, möglich werden.
Während Schindhelm versucht, sich ein klares Bild über den erlittenen Kulturschock zu erschreiben, wird deutlich, dass die Wende den meisten Deutschen oft nur durch Fernsehbilder vermittelt wurde, die jeweils ganze Kettenreaktionen der Meinungsmaschinerie in Gang setzten. Ein Prozess also, der jenseits unseres Bewusstseins unser Denken beeinflusste und somit die Begegnungen in der Echtwelt vorbelastete. Schindhelm geht so weit, die Nachwendezeit in Termini von Bildern zu beschreiben: Das Fernsehen habe in Ost wie West unterschiedliche virtuelle Wirklichkeiten suggeriert, die vom Bilderstürmer Außenwelt oft schmerzhaft zerschlagen worden seien. Die Desillusionierung des "Zaubers" ließ also nicht auf sich warten.
In Erinnerung an das elterliche Wohnzimmer stellt Schindhelm fest, dass bei DDR-Bürgern, die heimlich Westfernsehen schauten, der Eindruck entstanden sei, das Glück der freien Welt bestünde in ihrer farbenfrohen Erotik, welche die eigene Heimat blass erscheinen ließ und nie erfüllbare Sehnsüchte weckte. Im Zusammenhang mit diesem "Unruhestiftungsprogramm" aus der Flimmerkiste verweist der Autor auf die besondere Bedeutung eines "I can't get no satisfaction" aus dem provokativen Mundwerk Mick Jaggers. Die "große Erregung" der Wende sollte sich also als Zerreißprobe für die Vorurteile erweisen.
Durch seine Beobachtung der Medienentwicklung der 90er Jahre kommt Schindhelm zu einem erstaunlichen Urteil: Er wirft dem Fernsehen vor, keine Verantwortung für das falsch vermittelte Wirklichkeitsbild zu übernehmen, sondern im Gegenteil zu einem unkontrollierbaren Selbstläufer zu mutieren, der plötzlich auch den sicher geglaubten Westen in seinen Sog zieht und im Kern erschüttert. Die einst so starken Bilder, die Freiheit in den höchsten Tönen versprachen, so schreibt er, verkochten zum Einheitsbrei einer konturlosen Fernsehwirklichkeit, die zusammen mit dem rasanten Ausbau des Internets dem Phantom der Globalisierung plötzlich ein Gesicht verlieh. Deutschlands Vereinigung nahm für Schindhelm folglich eine weitere Wende: Nach dem Zusammenprall der Unterschiede schlich sich nun durch die Glotze allmählich die Nivellierung der kulturprägenden Charakteristika ein, die bundesweit eine demokratieschädliche Gleichgültigkeit nach sich zog. Der Zynismus der Einheit liegt laut Schindhelm ergo ausgerechnet in der Vereinheitlichung eines unübersichtlichen Medienchaos.
Welche radikalen Einschnitte die Nachwendezeit im Osten zur Folge hatte, beschreibt Schindhelm aus der Nische des Theaters, wo er Budgetkürzungen empfindlich zu spüren bekam und sich, wenn auch nicht immer, einfallsreich zu helfen wusste. Den Begriff des "Strukturwandels" macht er anhand trauriger und komischer Anekdoten anschaulich. So schreibt er von einem peinlich beklemmenden Entlassungsgespräch, in dem sich ein alter Heizer schneller als er, der Intendant, zum Klartext durchringen kann: Die Technik aus dem Westen hat seine Stelle weggezaubert.
Was im aalglatten Politikerjargon "den Gürtel enger schnallen" heißt, erweist sich für Schindhelm oft als schier nicht zu meisterndes Hangeln nach Kompromisslösungen, ein Vermitteln zwischen örtlichen Abogängern, besserwisserischen Politikern und Künstlern, die alle die unvermeidlichen Sparmaßnahmen selbst bestimmen wollen. Der Intendant lässt den Leser wissen, dass ein Befreiungsschlag aus den festgefahrenen Mustern nicht unbedingt dem Herzenswunsch des finanzkräftigen Publikums entspricht, sondern vielmehr als ketzerischer Anschlag auf die Hochkultur verstanden wird. So berichtet er von einem steinigen Weg, der unter vielen Unkenrufen zu einem nie ungetrübt genießbaren Erfolg führt. Und er schreibt von einem völlig unerwarteten Geldregen Basler Theatergänger, die damit einen Kahlschlag am eigenen Haus verhindern. Letzteres als Wundpflästerchen, nachdem Schindhelm den "Zauber des Westens" kapitelweise demontiert hat.
Im Zwischenbericht über seine eigene Nachwendezeit gesteht sich Schindhelm ein, dass auch er nicht vom "Zersetzungsprozeß" des Wandels verschont wurde. Er legt Zeugnis ab über das Werden eines neuen Ich, das nun "schneller, härter, stromlinienförmiger" der schneidenden Kälte des Einzelgängertums standhalten kann. Gleichzeitig gibt er einen Rückzug in die Privatheit zu, um der kollektiven Vereinsamung der tatenlosen Fernsehgemeinde zu entkommen. Seinen Individualismus weiß er letztlich nur durch seine Fremdheit mit einiger Hilflosigkeit zu erklären: Er finde keinen Anschluss, habe nie das Gefühl, in der Gegenwart angekommen zu sein. Damit wird rasch klar, dass auch er den eigenen Standpunkt nicht so recht zu orten weiß. Selbstbehauptung findet sich zumindest in seinem Buch nur in der Verklärung.
Etwas schwerfällig wirkt, dass Schindhelm sich im "Zauber des Westens" nie zu einem "Ich" bekennt, sondern sich nur in der dritten Person erwähnt und keine klare Sprache findet, um die eigene Meinung scharf abzugrenzen. So zerfließt manches Ressentiment ins Ungefähre - Ressentiments übrigens, die er seinen Gegnern im Buch mehrmals ankreidet. Auch die Namen diverser Orte und Personen zu nennen hätte nicht geschadet. Schindhelm hätte gut daran getan unnötige Verschlüsselung zu vermeiden - einige seiner Wegbegleiter hätten eine namentliche Erwähnung verdient gehabt, im Guten wie im Bösen. Symptomatisch für die Entfremdung des Einzelnen in der Medienlandschaft ist, dass Schindhelm sich eines ihm selbst nicht geläufigen Vokabulars bedient, ausufernde Themen in Nebensätzen anschneidet und darüber den roten Faden verliert. Darum bleibt letztlich unklar, was und wen der Autor eigentlich kritisieren will. Manche Passagen nehmen einen seltsam apodiktischen Ton an, jedoch - soviel wird dem Leser allemal deutlich - dieses Suchen nach Gewissheit zeugt auch von unser aller Orientierungslosigkeit.
Unterm Strich bleibt Schindhelms Rückblick in seiner Erklärungsnot auf halber Strecke stecken. Einerseits gibt er zwar all denen, die vom "Tag der Einheit" nichts wissen wollten, die Gelegenheit, die innerdeutsche Entwicklung nach der Wende nochmals Revue passieren zu lassen. Er bietet mit die Chance zum Umdenken, ohne dabei jedoch eine eindeutige persönliche Haltung zum Thema einzunehmen. So verfällt er andererseits selbst just dem "wabernden" Ungefähr, das ihm am neuen Deutschland so sehr zuwider ist. In manchen Erklärungsversuchen rutscht Schindhelm gar in gefährliche Vereinfachungen ab. Die Behauptung, der Konsumdruck des Westens habe den Ideologiedruck des Ostens ersetzt, ist rückwärts gewandte Augenwischerei: Den Wert einer Demokratie lässt der Autor dabei klammheimlich unter den Tisch fallen.
Ernüchtert von den Heißkaltbädern des persönlichen Stationendramas vermittelt Schindhelm dem Leser, er habe seinen eigenen Mittelweg zwischen Anpassung und Standhalten gegen das Fremde gefunden. Er zieht das Fazit, Heimat sei ortsunabhängig. Damit gewinnt er in der deutschen Identitätsfrage einen gewissen Sicherheitsabstand, er gewinnt an Gelassenheit, und die Hassliebe auf das Einheitsdeutschland lässt nach, auch wenn die Heimat ihn nie so recht loszulassen vermag.
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