Stolpersteine der Vielfalt
Eine Aufsatzsammlung zur deutsch-jüdischen Literatur
Von Anne Nussbaum
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Staub und Sterne". Ein Titel, der - einem Gedichtband von Hanna Blitzer entlehnt - Assoziationen Tür und Tor öffnet. Wer die vor vier Jahren verstorbene israelische Literaturwissenschaftlerin Margarita Pazi kennt, wird sofort auf der richtigen Spur sein. Andere sind wie so oft auf einen Blick auf den Untertitel angewiesen: es geht um deutsch-jüdische Literatur.
"Was ist deutsch-jüdische Literatur? Wer ist als jüdischer Schriftsteller zu verstehen? Welche jüdischen Autoren haben sich von einem bestimmten Zeitpunkt an mit dem Judentum identifiziert?" Diese Fragen haben die Herausgeber Sigrid Bauschinger und Paul Michael Lützeler, die beide in den USA lehren, als gemeinsamen Nenner der 15 hier gesammelten Aufsätze von Margarita Pazi ausgemacht. Max Brod, Ernst Weiß, Richard Beer-Hofmann, Karl Kraus, Stefan Zweig, Kurt Tucholsky, Else Lasker-Schüler, Jenny Aloni... Die Behandlung einer solch heterogenen Autorengruppe konnte nur durch ein gemeinsames Thema gerechtfertigt werden.
Zweifellos steht in Pazis Forschungen "jüdische Literatur" im Zentrum. Die Autorin war sich bewusst, dass diese Kategorie nicht unproblematisch ist. Ihrer Ansicht nach handelt es sich dabei um Literatur von Juden, die ihre ethnische Zugehörigkeit bejahen und dieser Tatsache in ihrem Werk bewusst oder unbewusst Ausdruck verleihen. Diese Definition lässt natürlich viel Interpretationsspielraum. Darum hält sich Pazi in den vorliegenden Aufsätzen auch mit klaren Zuordnungen zurück, zeichnet, wenn möglich, die Selbstsicht der Autoren nach, ohne diese jedoch zu verabsolutieren.
Die im Vorwort geweckte Erwartung, Pazi werde sich systematisch mit der Frage nach "jüdischer Literatur" beschäftigen, erfüllt sich nicht ganz. Je nach ursprünglichem Schreibanlass verfolgt sie nämlich unterschiedliche Fragestellungen. Die Art der Aufsätze verändert sich dementsprechend. So vernachlässigt sie z. B. in "Franz Kafka und Ernst Weiß" die Frage nach der Beschäftigung mit Jüdischem und Jüdischsein, und in dem überblicksartigen Beitrag zu Ludwig Winder beschränkt sie sich auf (manchmal ärgerlich) knappe Andeutungen. Über Winders Roman "Die Reitpeitsche" (1929) kann man beispielsweise lesen: "Obwohl weder jüdische Handlungsträger noch Belange in die Romanhandlung einbezogen sind, lassen sich deutlich jüdische Bedeutungshinweise und Sinngehalte erkennen, die Rückschlüsse auf die unbewältigte Sehnsucht des Autors nach einem positivistischen Gottesverständnis gestatten." Solche nicht weiter erklärten Sätze bieten wenig Erkenntnisgewinn. Da Pazis Ausführungen an anderer Stelle wiederum, wie in dem Aufsatz über Hermann Broch, sehr ins Detail gehen, könnte man solche Verkürzungen vielleicht durch Platzmangel erklären - beim Lesen ist dies aber einerlei.
Dessen ungeachtet sollten Stärken der Autorin nicht übersehen werden. Selbst aus Böhmen stammend schreibt Pazi trotz wissenschaftlicher Distanz sozusagen aus der Innenperspektive und tritt auch gelegentlich als Zeitzeugin auf. Auf dem Gebiet der deutsch-jüdischen Literatur aus dem böhmisch-mährischen und tschechischen Kulturraum, die einen der Schwerpunkte in dieser Aufsatzsammlung bildet, und besonders über Max Brod, mit dem sie sich intensiv seit ihrer Dissertation beschäftigt hat, kann sie mit einem reichen Wissen aufwarten, das sich auch aus persönlichen Gesprächen und Briefen nährt. Einen Fehler in der Biographie von Max Brod, der 1939 und nicht 1940 ins Land Israel kam, kann man von daher wohl unter der Rubrik "Fehlerteufel" verbuchen. Eine große Menge von Titeln werden im Buch genannt. Besonders was die deutsch schreibenden Schriftstellerinnen Israels angeht - ein weiterer Schwerpunkt -, hat Pazi hervorragende Vorarbeit für weitere Forschungen geleistet.
Für die Konzeption des Buches wäre es sinnvoller gewesen, sich thematisch zu begrenzen, es sei denn, Ziel wäre es gewesen, die Vielfalt von Pazis Forschungen zu dokumentieren. Die am Wirken Margarita Pazis Interessierten jedenfalls dürfen erfreut sein, die (mit einer Ausnahme) in den 80er und 90er Jahren publizierten Aufsätze hier in einem Band versammelt zu finden.