Platon und seine Schatten
Roberto Casati präsentiert "Die Entdeckung des Schattens"
Von Claudia Schmölders
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSchlemihlische Mentoren der neuen Kulturwissenschaft werden an diesem Buch ihre Freude haben. Der gängigen "Schattenwirtschaft" wird, nach den Explorationen von Gombrich, Stoichiti und Baxandall, eine zunehmend greifbare "Schattenwissenschaft" zur Seite gestellt, auf dem Turnierfeld von Geistes- und Naturwissenschaft. Von der letzteren kommt der italienische Wissenschaftshistoriker Robert Casati her und behandelt nichts weniger als das Unbewusste des ganzen Feldes. Das verdient uneingeschränkte Bewunderung. Dem Symbol aller Obskuranz, nein: der Quelle aller astronomischen Erkenntnis wird zu Leibe gerückt, aufs Genaueste interdisziplinär, liebevoll didaktisch und zugleich streng mit den achtlosen Betrachtern unserer Erde. Den prominentesten nennt Casati Platon. Dessen berühmtes Höhlengleichnis liest er einleitend als irreführende Abwertung der Schatten. Casati nimmt den Ausdruck "Schatten" hier wörtlich, wohl ein Missverständnis, doch gewiss in didaktischer Absicht. Manches an dieser Didaxe erinnert an "Sophies Welt": so die fingierten Dialoge zwischen Platon und seinem Schatten, so die kleinen "Zwickmühlen" für Denksportler - sind Schatten schneller als das Licht? - und so das nachsichtige Festhalten am First Person Narrative als einer behutsamen, dem Common Sense angepassten Weise der Hypothesenbildung und -untersuchung. Entgegen kommen dem Leser auch die vielen historischen Erzählungen, teils Anekdoten, teils Kriminalgeschichten, doch immer mit unglaublichen Momenten der Wissensgeschichte befasst, eben mit den dramatischen Entdeckungen von Astronomie und mathematischer Geometrie. Nach dem Motto von Kepler "Alle Himmelsbeobachtungen erfolgen mit Hilfe von Licht und Schatten" waren planetarische Fragen das treibende Element seit der griechischen Antike. Ob die Nacht als Schatten der Erde zu betrachten sei, ob der Mond einem zyklischen Phasenverlauf folgt, wie Mond- und Sonnenfinsternisse entstehen, ob die Erde rund oder flach ist, ob der Mond zu- und abnimmt oder von der Sonne beleuchtet wird. Diese letztere Erkenntnis ist die erste planetarische, die sich datieren lässt, vermutlich auf das Jahr 500 v. Chr. und zugeschrieben dem Parmenides. In welchem Ausmaß die Wissensgeschichte der Astronomie von der sorgfältigen Beobachtung und Evaluierung der Schatten abhing, dürfte kaum ein Laie vorher gewusst haben; hier kann man es lernen. Schon Aristoteles wusste aus der Beobachtung des Erdschattens auf dem Mond, dass die Erde größer als dieser und kugelförmig ist. Schon Aristarch von Samos wusste die Dynamik des Schattens, der länger und kürzer wird, mit der Rotationsachse der Erde gegen die Sonne zu erklären. Schon Eratosthenes vermochte durch einen Schattenvergleich an zwei Punkten auf demselben Breitengrad den Erdumfang zu bestimmen. Nach der Vermutung von Hipparch - die Sonne sei im Schnitt mindestens 490 Erdradien von der Erde entfernt - gibt es erst mehr als anderthalbtausend Jahre später, am Ende des Mittelalters, wieder eine entscheidende Schattenlektüre in rebus astronomicis. Die dramatische Entdeckung des wahren Mondgesichts durch Galileo - der Mond ist nicht glatt und blank, sondern pockennarbig und zerfurcht und hat Berge und Täler auf seiner Oberfläche - gewinnt unter Casatis Beschreibung den Charakter einer weiteren Kränkung menschlichen Selbstbewusstseins, nach der kopernikanischen und vor jener durch Darwin und Freud. Aber der Fortschritt des Denkens ist unaufhaltsam. Entdeckt und vermessen wird die gesamte planetarische Besatzung des Himmels, Phänomene wie die Saturnringe, wie die Größe des Merkur, wie die Erleuchtung der Venus und vieles andere.
Dass der Schatten etwas über die Form des Objekts aussagt, das ihn wirft und zugleich natürlich etwas über die Lichtquelle und deren Bewegung oder Stillstand - diese ganz einfache Tatsache liegt den Entdeckungen im kosmischen Maßstab zugrunde. So gerüstet nähert sich Casati dem unbedarften Erdenbewohner, der mehr auf den Boden als auf den Himmel schaut und nimmt ihn an die Hand. Wie plausibel wirkt etwa das schönste Beispiel für die Kreuzung der Wissenswelten: die Sonnenuhr. Dass sie nicht bloß aus Schüssel und Zeiger und Schattenlinie besteht, sondern mit dem ganzen planetarischen System arbeitet, zusammen mit Sonne, Erde und den Bewegungen beider - diese Erkenntnis nennt Casati erst spät. Sie gilt aber für alle natürlichen Schatten dieser Erde. Und hier liegt ein Problem. Es stammt aus der ethnokulturellen Betrachtung des Schattens. Fast immer, vermerkt Casati zutreffend, sind Schatten negativ oder mindestens pejorativ konnotiert, als gäbe es keine Wüste, in der Schatten Leben bedeutet. Die Erzählungen und Glaubenssätze der Völker bekunden Angst und Sorge im Umgang mit Schatten. Wer seinen Schatten verliert, stirbt. Wer ein Schatten ist, lebt im Totenreich. Darüber will uns Casati trösten wie schon in seiner Lektüre vom platonischen Höhlengleichnis. Bei genügend astronomischer Neugier muss man einfach merken, was für großartige Erkenntnischancen der Schatten birgt, und dass alle Erzählungen trübsinnigen Inhalts bloß "Füllmaterial zur Anreicherung von Erzählungen" sind. "Folglich gibt es kein 'primitives' Denken, das Schatten für magische Dinge hält. Die ethnografischen Berichte über Schatten geben keine Überzeugungen, sondern Erzähltraditionen wieder; sie offenbaren ebenso wenig eine absonderliche Psychologie bei den nichtwestlichen Völkern, wie die Geschichten von Peter Schlemihl".
Wenn Kinder mit Schatten zunächst nichts anfangen können, so nur, weil die Evolution diese Wahrnehmung so tief verankert hat, dass wir unbewusst damit hantieren und es auch dabei lassen wollen. Tiere arbeiten mit den Schatten, um Beute zu machen; alle Geschöpfe nutzen Schatten, um sich einen Weg durch den euklidischen Raum zu bahnen. Offenbar liegt in der evolutionären Zielgeraden aber gleichzeitig auch ein mathematisch-planetarisches Raumbewusstsein, das zu einem bestimmten Zeitpunkt im griechischen Denken auftaucht und Karriere macht, jedenfalls in der westlichen Welt. In der Herleitung der Ikone westlichen Raumempfindens, der Zentralperspektive, aus dem Prinzip des Schattenwurfs, gipfelt Casatis Buch. Was immer an dieser These stimmt, sie will doch einmal mehr bestätigen, dass mit der Aufwertung des Schattens auch der Realitätssinn zunimmt, wohlgemerkt: der welträumliche Realitätssinn. Wenn die Schlagschatten in die Malerei eindringen, die sie seit Menschengedenken gemieden hat, wird der Blick der Fotografen anerkannt, die den Schatten nicht mehr ausblenden können, die selber eine Art Schattenkunst treiben und in der Exploration des Weltalls unentbehrliche Dienste leisten. Kurz, wer die Angst vor den Schatten überwindet, wird weltraumkompatibel. Er verliert die Angst, die aus den Volkserzählungen spricht. Natürlich kennen alle Mythen planetarische Verhältnisse. Aber sie werden in aller Regel dramatisch familiarisiert. Sonne und Mond sind wie Mann und Frau, haben Kinder, bilden häusliche Verhältnisse ab. Der mythische Erzähler will die Angst vor dem offenen System vertreiben, denn nicht bewusst werden darf, wovon der Schatten doch immerfort redet, das Bewusstsein, dass wir auf einer Kugel in einem irgendwie leeren Raum schweben. Dass die mathematische Planetographie eben dieses Bewusstsein zulässt, kann als antimythische Position schlechthin gelten. Eben weil der Autor so denkt, liest er Platon falsch. Den allegorischen Schatten auf der Höhlenwand steht im Rücken der Betrachter keine drei- oder n-dimensionale Wirklichkeit entgegen, sondern die wirklichkeitszeugende Idee. Und diese, als Idee des Guten, stammt ausgesprochen aus dem System der Sprache, also einem akustischen. Auch Schallwellen werfen so etwas wie Schatten, wenn sie auf resonante Körper treffen. Aber wir nennen sie "Echo" und finden die so erwidernden Objekte vergleichsweise lebendig.