Große Unruhe, ausgezeichnete Lage
Ein brillanter Sammelband über Revolutionen der Weltgeschichte
Von Rolf-Bernhard Essig
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs ist eine der berühmtesten Doppel-LPs aller Zeiten: "Das weiße Album". Auf der zweiten Seite der zweiten Platte setzt sanft die halbakustische Gitarre mit einigen Bluesakkorden ein, das Schlagzeug gibt eine härtere Gangart vor, dann fällt aggressiv die verzerrte E-Gitarre mit antreibenden Riffs ein, denen erstaunlich einschmeichelnder Gesang folgt: "You say you want a revolution." Die Beatles tragen da ein gar nicht garstiges politisches Lied mit dem Titel "Revolution 1" vor.
Als hätte sie die inquisitorische Trinität Merzmeyermerkel wegen ihrer Vergangenheit angemeckert, schwören die glorreichen Vier nämlich gleich in wünschenswerter Klarheit jeglicher Gewalt ab - "But when you talk about destruction / Don't you know that you can count me out" - und setzen pazifizierend hinzu: "Don't you know it's gonna be alright. Alright! Alright!"
Das "Weiße Album" erscheint im Jahr 1968, doch offenbar missachten viele den Song von Lennon/McCartney: In den USA schwelen schon seit Jahren Rassenunruhen, aus Anti-Vietnam-Demonstrationen entwickeln sich Straßenschlachten, Martin Luther Kings Ermordung schließlich gibt das Signal für bürgerkriegsähnlichen Aufruhr: 110 Städte erleben Verwüstung, Brandstiftung, Plünderung, mindestens 3.500 Menschen werden verletzt, 46 getötet. In Paris brechen gleichzeitig Studentenunruhen los, die Gewerkschaften rufen zum Generalstreik auf, weil die Polizei mit extremer Härte vorgeht. In Deutschland eskalierte der Schah-Besuch wegen prügelnder iranischer Geheimdienstler, am 2.6.1967 starb Benno Ohnesorg, es folgten Massenaufmärsche, Brandsätze in Kaufhäusern, Terrorismus. In Italien explodieren Bomben, Faschisten mischen sich in die Kämpfe linker Studenten und Schüler ein, der "heiße Herbst" scheint den inneren Frieden des Landes zu zerstören. Gleichzeitig unternimmt die tschechische Führung den Versuch, einen demokratischen Sozialismus zu installieren - Panzer des Warschauer Paktes beenden blutig das Experiment.
Kann man all diese heterogenen Ereignisse unter dem Begriff "Revolution" zusammenfassen? Arthur Marwick bejaht die Frage grundsätzlich, weitet allerdings die Phase der Umwälzung deutlich aus und schreibt in seinem Beitrag zur "68er Revolution" über die "langen Sechziger (1958-1974)", in denen sich in den USA und Europa tief greifende Veränderungen durchsetzten: Liberalisierung, weiter gehende Demokratisierung, Bildungsoffensive und Frauen-Emanzipation. Politiker, die gerade in den letzten Monaten über diese Zeit so kenntnislos wie vereinfachend redeten, sollten Marwicks Artikel, am besten gleich den ganzen Band, in dem er erschien, lesen.
Was der Herausgeber Peter Wende unter dem Titel "Große Revolutionen der Geschichte" versammelt hat, kann ohne Übertreibung als revolutionär bezeichnet werden. Experten stellen in 20 Aufsätzen Revolutionen von der altorientalischen Zeit bis zur, man beachte das Wort, "Revolution" in der DDR 1989 vor. Obwohl die Rede von der "Wende" wohl nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist, beharrt Hartmut Zwahr in seiner Darstellung von 1989 völlig zu Recht auf dem Begriff. Denn erstens bezeichnete "Wende" sieben Jahre lang den Sturz Helmut Schmidts 1982 durch den Koalitionsbruch der FDP und zweitens verharmlost das Wort die Intention, den Mut und die Energie der Revolutionäre in Ostdeutschland, vor allem aber die Gefahr, in der sie schwebten. Zwahrs Artikel gehört sicherlich, gerade weil die Ereignisse erst elf Jahre zurückliegen, zu den spannendsten.
Allen Beiträgen gelingt es, die komplizierten Voraussetzungen, Abläufe und Folgen der Umsturzversuche verständlich, anregend, oft sogar mitreißend zu erklären, ob es um die Amerikanische Revolution von 1776, um die Französische von 1789, die europäischen von 1830 und 1848, die deutsche von 1918/19 geht.
Dabei ist es einzigartig, wie Peter Blickle die Forschungsergebnisse zum Bauernkrieg von 1524-26 geradezu genial auf den Punkt bringt, ohne Vereinfachungen, Heroisierungen oder einseitigen Interpretationen aufzusitzen.
Ähnlich differenziert führt Dietrich Beyraus durch die Wirren der Oktoberrevolution. Was fast jeder nur als Begriff und Jahreszahl kennt, gewinnt auf nicht einmal 20 Seiten klare Struktur und Bedeutung. Endlich versteht man, dass erst die ebenso wendige wie brutale Pragmatik der Bolschewisten, die nicht einmal auf die eigene Ideologie Rücksicht nahm, den langfristigen Erfolg sichern konnte. Deutlich wird aber auch, wieso die völkermordenden Bolschewiki weltweit faszinierten: Die große Idee von der Weltrevolution gegen Feinde von innen und außen durchzusetzen, heiligte alle Mittel; es war ein gigantisches Experiment mit der Hoffnung auf ein säkulares Paradies, bei dem ein ganzes Land als Versuchsobjekt diente.
Es fehlen aber im grausamen Umsturz-Wechselspiel um der Freiheit willen auch nicht die Satyrspiele. So ließ Fidel Castro, der nur wenige Kämpfer in seiner Befreiungsarmee hatte, während eines Interviews viele Abteilungen an den amerikanischen Reportern vorbeimarschieren, die darauf von einer erheblichen Streitmacht berichteten. In Wirklichkeit hatten immer dieselben Leute nur ihre Kleidung neu arrangiert und waren - ein alter Theatertrick - im Kreis gelaufen.
Die Konzentration des Buches auf westliche Umstürze und auf die Neuzeit liegt in der Natur der Sache, denn hier lösten Modernisierungen umfassenden Wandel aus, doch gibt es Kapitel zur mexikanischen, ägyptischen und islamischen Revolution in Iran. Gleich zwei Beiträge stellen chinesische Revolutionen vor. Einerseits die unerhört verlustreichen Kämpfe Maos und seiner Generäle, bis sie 1949 das ganze Land beherrschten, andererseits die so genannte Kulturrevolution, die 1966-1976 das riesige Reich ins Chaos stürzte und etwa vier Millionen Tote forderte. Verwaltung, Justiz, das Schulsystem brachen zusammen, alles, was mit Bildung zu tun hatte, wurde gnadenlos verfolgt, vor allem aber die "stinkende Nr. 9", die Intellektuellen. Wer aufbegehrte oder auch nur argumentieren wollte, wurde im besten Fall mit Mao-Bibel-Zitaten mundtot gemacht, wie: "Es herrscht große Unruhe, die Lage ist ausgezeichnet."
Eine der vielen Qualitäten dieses Bandes besteht zweifellos darin, die Wechselverhältnisse zwischen den Revolutionen zu zeigen, die rasch Mythen mit geringem Bezug zu den tatsächlichen Geschehnissen wurden. Gleichzeitig erlaubt die Lektüre, Revolutionen in ihrem Anspruch und Verlauf, in ihren Folgen und Nachleben zu vergleichen - die Revolution in der DDR erweist sich darin als Glücksfall und singuläres Ereignis, dem mythenbildende Qualität für das historisch-demokratische Selbstbewusstsein der Deutschen nur gewünscht werden kann.