Willkommen und Abschied
Saids aufwühlendes Buch einer komplizierten Liebe
Von Rolf-Bernhard Essig
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas neue Buch Saids liest man in einem Zug. Dabei fällt mir die Anekdote ein, leider ist sie wahr, von dem amerikanischen Literaturwissenschaftler, der Kafkas Erzählung "Das Urteil" als Eisenbahnprosa interpretierte, weil er in dessen Tagebuch unter dem Datum 23.9.1912 gelesen hatte: "Diese Geschichte 'Das Urteil' habe ich in der Nacht vom 22. bis 23. von zehn Uhr abends bis sechs Uhr früh in einem Zug geschrieben." Den folgenden Satz vom Schreibtisch und der konzentrierten Produktion die Nacht hindurch las der Meisterinterpret schon nicht mehr.
Doch selbst als Bahn-Buch ließe sich Saids autobiografische Prosa "Landschaften einer fernen Mutter" vorzüglich lesen, denn es handelt vom Unterwegssein und vielleicht sollte man solche Exilwerke auch im Zwischenreich des Unterwegsseins lesen.
Filmisch beginnt Said seine Liebesgeschichte auf dem Flughafen mit vielen spannungssteigernden Hindernissen, die das Wiedersehen lange Getrennter gefährden. Er schildert die schmerzhaften Demütigungen und willkürlichen Bedrohungen des Exilierten mit seinem provisorischen Flüchtlingspass. Dabei will er doch nur zur ersehnten Iranerin nach Kanada fliegen, denn er kann nicht nach Iran und ihr gewährt Deutschland kein Visum. Die ganz besondere Liebe, um die es hier geht, wird überschattet von tausend Ängsten: "vor der ersten nacht", "daß der raum zu eng wäre für uns", "daß du am ende enttäuscht bist"; "und noch eine letzte angst. Wenn du bei mir bist, müssen wir wohl beide im selben bett schlafen." Die Ersehnte, die ängstlich Vermisste, die er nach Jahren wiedersehen wird, ist seine Mutter.
Natürlich verbinden viele Eigenschaften deutsche Mütter mit ihren orientalischen Schwestern; die dort übliche, uns maßlos erscheinende familiäre Leidenschaft allerdings kennen wir nicht. Kommt lange, erzwungene Trennung noch dazu, entwickeln sich ungeheure emotionale Energien. Ganz bewusst verwendet Said deshalb bei der Beschreibung seiner Angst, seiner Sehnsucht nach der Mutter Worte, die wir nur für eine Geliebte zuließen. So schenkt Said unserem Vaterland ein einzigartiges Mutterbuch.
Ein wunderbarer Dichter ist Said, der deutsche PEN-Präsident, dazu gebürtiger Iraner und Flüchtling. Die Ehe seiner Eltern wurde noch vor seiner Geburt nach vierzig Tagen geschieden, er wuchs bei den Verwandten des Vaters auf: "vereinsamt, eine schmale und amorphe kindheit", die Mutter sah er nicht. Mit 17 kam er nach Deutschland und ließ sich von Oskar Werner mit Rilke und Trakl verführen zur deutschen Sprache: "die sprache der freiheit, meiner freiheit." Mit dem Schah-Regime, mit den diktatorischen Mullahs gibt es für ihn nur eine Verbindung: den Kampf. Eine Rückkehr ist also unmöglich, und ein Treffen mit der Mutter gelingt deshalb erst mit 46, im fernen Kanada bei seinem Stiefbruder. "Landschaft einer fernen Mutter" handelt von der Vorgeschichte, dem Verlauf, dem Ende dieser komplizierten Begegnung, genauer von dem dramatischen Gefühls-Chaos, das sie auslöst. Wie fiebert man mit beim Lesen, wie kribbelt die Aufregung im Rücken, wie steigt die eigene Anspannung, wenn immer noch die Zusammenkunft hinausgezögert wird, wie berührt dann die Szene des endlichen Wiedersehens!
Das Treffen in Toronto zwischen dem verlorenen Sohn und seiner Mutter dauert drei Wochen. Saids kurze Sätze, seine vorsichtige, zärtliche und genaue Sprache bannt den Leser fest vor diesem Schauspiel, dessen stürmischem Beginn langsamere, nur schrittweise Annäherung folgt, denn die sich als Mutter und Sohn gegenüber sitzen, müssen sich erst austauschen, beobachten, erkennen. Ein Kammerspiel der Sohnesliebe läuft ab, mit langen Schweigephasen, in denen manchmal Körper Flagge zeigen, Befremdliches vorfällt, Distanz und versuchte Nähe oszillieren, kurze Streits sich mit langen Aussprachen abwechseln. Viele Fragen bleiben ungestellt, viele Antworten wortlos.
Dann die Trennung, der Abflug. Schließlich der Epilog. Hier, zehn Jahre nach dem Ereignis und dreißig Seiten vor Schluss, kippt das Buch. Said hat den Leser geködert, jetzt zieht er mit einem Ruck die Angelrute hoch, der Haken sitzt. Erstaunt erst, dann erschrocken, folgt man Said auf den letzten Seiten, wo die Verbindungen von Politik und elterlicher Liebe, von erstem und aktuellem Exil schonungslos aufgedeckt und verdammt werden. Said befreit sich von gefühliger Denk-Verfilzung, dringt cum ira et studio durch zu einer Klarheit und Konsequenz, wie sie nur selten zwischen Sohn und Mutter zu erreichen ist.
Wem also, wenn nicht allen Müttern, allen Söhnen, sollte dies Werk - so voll der Süße und voll Bitternis, voll Sehnsucht, Abschied, Einsamkeit - ans Herz gelegt werden? Vielleicht noch dem Außenminister, dem Kanzler, dem Wirtschaftsminister. Denn natürlich ist "Landschaften einer fernen Mutter" gleichermaßen ein hochpolitisches Buch, das Klarheit und Konsequenz in der privaten wie in der politischen Sphäre fordert.