Das Rohe und das Gekochte
Über Udo Pinis Gourmet-Handbuch
Von Claudia Schmölders
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDieses Buch muss man nicht anpreisen, es erobert stürmisch die Haushalte. Die Küchen, Bücherregale, Nachttische, Koffer, Ablagen im Auto und die überall zugehörigen Köpfe. Udo Pini, der gewandte, einfalls- und kenntnisreiche Gastrosoph, Gastrokritiker und Journalist hat mit seinem achtköpfigen Team in Hamburg ein Meisterwerk zu Geschichte und Technik unserer Esskultur vorgelegt: mit über tausend Seiten, mehreren tausend Abbildungen (bester Qualität) und mindestens elftausend (!) alphabetisch organisierten Stichworten von "A (Vitamin)" bis "Zwiebel". Ein roter Ziegelstein, der in Zukunft jeden Gourmet-Schwätzer das Fürchten lehren wird. Jetzt kann jede/r nachsehen, ob Brillat-Savarin wirklich ein französischer "Goethe de gout" war oder nur ein Käse (beides stimmt, Streit ist überflüssig).
Pinis "Gourmet Handbuch" kommt fast ohne Rezepte aus. Es ist kein Kochbuch, es ist ein kulturhistorisches Repertorium, mit einer Reichweite von Arabien bis Amerika, Indien bis Europa. Hauptdarsteller sind unsere (Grund-)Nahrungsmittel: Fleisch, Fisch, Gemüse, Getreide, Milch, Wein, Gewürze, Vitamine, Minerale. Gespiegelt im Facettenauge der Herkünfte aus Mythologie, Geschichte, Länder- und Landeskunde, Biologie und Zoologie einerseits, der Zubereitungen durch Techniken und Traditionen, Normen und Namen andererseits. All das leicht schnoddrig serviert, selbst beim himmlischen "Manna" kommt keine Ehrfurcht auf: "Feinschmeckers indifferentes Höchstlob für Maximalgenüsse, ähnlich wie Nektar oder Ambrosia. Immerhin war Manna die legendäre biblische Notnahrung, die als 'Brot vom Himmel' geregnet sein soll. [...] Der Ursprung des Wortes ist einstweilen unbekannt (arab. mann = Tamarisken-Manne, hebr. man-ha = was ist das?, beduin. man rinth = süßliche Pflanzenausscheidung). Das bekannteste Manna stammt vom Wüstenbaum Tamariske (Tammarisk mannifera) und ist ein austropfender, leicht sammelbarer, honigähnlicher, harziger Saft, provoziert durch Insektenbefall." Und immer so fort.
Derartig informationsdicht sind die meisten umfangreicheren Artikel; und was über Information hinausgeht, ist Erziehung, also Kultur. Wer nicht wusste, dass man den Kopf nicht zur Suppe, sondern den Löffel zum Mund bringen soll, lernt es spätestens hier. Auch schnell essen ist unfein und schädlich; so sehen es die Anhänger von "Slow Food": einer der kräftigsten Bewegungen gegen das gierige Fast-Food-Kartell der McDonald`s-Ketten. "Slow Food" vertritt eine éducation palatale mit Affront gegen die sinnlosen Globalisierungen des Gaumens, sprich gegen die Entwertungen der Region und ihrer Produkte. Neben der Geschichte vom und Erziehung zum guten Essen ist ein Hauptstück des Buches die Kulturtechnik der Zubereitung, einschließlich Lagerung, Einfrieren, Marinieren und Garen, kurz sämtliche Übergänge vom Rohen zum Gekochten, einschließlich ihrer Erfinder und Zelebrateure, der berühmtesten Köche: vom erwähnten Brillat-Savarin über den deutschen Rumohr, der auch eine "Schule der Höflichkeit" (1835) schrieb, zum Franzosen Carème, der den Wiener Kongreß bekochte und die steife Kochmütze erfand, zu den Charles Ritz, Walterspiel und Siebeck.
Der Übergang vom Rohen ins Gekochte situiert den Kosmos der Küche ins Herz der Kulturgeschichte, und wer weiß, vielleicht auch der Kulturwissenschaft. Gerhard Neumann arbeitet seit Jahren an diesem Paradigma, während der Mainstream sich längst den Theatralisierungen und Performationen, den bekleideten oder operierten "Körpern von Gewicht" im öffentlichen Raum widmet. Aber gibt es nicht zwischen Küche und Bühne heimliche Arrangements, eine doppelte Buchführung des Geschmacks, die uns die moderne Bühnenkunst als immer verrohter und die gleichzeitige Kochkunst als immer verfeinerter und gesundheitsbewusster erscheinen lassen? Und welche Rolle spielt hier, zwischen Küche und Bühne, der Tierfilm, mit seinen belauschten Protagonisten, die allermeist nur über ein einziges Kostüm und wenige Handlungsabläufe verfügen, und die wir Voyeure doch immer mit mindestens einem archaisch gefräßigen Auge betrachten?
Mag auch vor dem Strukturalismus der vierziger Jahre der Vorhang gefallen sein, Lévi-Strauss demodé wirken, die palatalen Künste sind mit der Verwandlung des Rohen ins Gekochte gleich bleibend befasst, ja werden immer auffälliger, je dramatischer die Vergiftungen und Verkünstlichungen unserer Nahrungsmittel sich ausnehmen. Ist es ein Sakrileg, unter diese palatalen Künste auch die Sprache zu zählen? Unter allen Mehrwerten, die Pinis Handbuch neben der Kunde von Nährwerten bietet, ist dies der größte. Dieser Gourmet ist ein Sprachfex, weshalb das Buch unbedingt allen Dichtern und Übersetzern beiderlei Geschlechts zu empfehlen ist. Eines der ganz wenigen Rezepte gilt Prousts Madeleine (625 g Puderzucker und Mehl, 5 g Natron, Zitronenabriss, 300 g zerl. Butter, 600 g Vollei). Aufmerksam referiert er die Rolle der Sprache bei den Trancheuren: "Da wird Brust freigelegt, oder entbeint, Rippe ausgestoßen, Keule abgehoben oder entfernt, Knochen ausgelöst, Knorpel zerteilt, Haut abgezogen..."
Gourmet Pini bietet uns sämtliche wichtigen Begriffe in mindestens fünf Sprachen dar: deutsch, englisch, französisch, italienisch, spanisch, oft auch noch portugiesisch, also in den Sprachen der Hauptküchen. Häufig gibt er etymologische Hinweise oder fachsprachliche Ausdrücke von Jägern oder Winzern. Das Buch wimmelt von eingestreuten Wörterbüchern, das Spiel im Spiel, die Bühne auf der Bühne, das Bild im Bild. Es gibt große und kleine und Nano-Wörterbücher. Die großen gelten den nationalen Küchensprachen wie Österreich, Schweiz und Deutschland. Die kleineren gelten den Fachausdrücken etwa für "Schlachtschnitte und Stücknamen", wo sich die Österreicher besonders hervortun mit "Beinscherzerl" und "Dickes Kügerl", "Fettes Meisel" und "Hierferschwanzl", "Hinteres Pratzel" und "Kruspelspitz", die Schweizer aber auch nicht übel denken, wenn sie von "Federstück" und "Flacher Nuß" sprechen, von "Stotzen" und "Unterspälte" und immer so fort. Auch wer nur als Tourist und Gast in die Schweiz fährt, muss lernen, was "Schüblig" und "Flädli", "Kräpfli" und "Güggeli", "Stupfeti" und "Tasch" bedeuten. Der Gourmet liefert Wörterbücher für berühmte Saucen und Salate, für Reis- und Pasta- und Brotsorten, Krustentiere, Suppen, Eintöpfe, Eiprodukte, Käse, Kaffee und Tee. Ausgepicht das Wörterbuch der Weinsprache, neben einer eigenen Gläser- und Flaschenkunde. Dann die Nano-Ebene: neben winzigen Tabellen zu pH-Werten und Kalorienzählung findet man plötzlich das "Prosit" in achtzehn Sprachen oder die deutschen Versuche, ein Wort für den sattgetrunkenen Trinker zu finden, das es nicht gibt (glubb, losch, plenn, plusch). Endgültig zu den Dichtern oder besser zu den Comiczeichnern spricht der Gourmet auf Seite 714, wo er "Die wichtigsten Onomatopöien im kulinarischen Bereich" erörtert: "Hmm, Niff, Schnuff, snurf, grompff, mampf, slurp, gluck, unk" etc.
Etwas von dem kindlichen Vergnügen, das hier die Mundhöhle entplatonisiert, hat den Autoren beiderlei Geschlechts die Feder geführt. Etwas einseitig haben sie freilich die Genderfrage berührt. Unter den Einträgen fehlt weder der Mann der Gegenwart - das "Weichei" - noch der Mann der Zukunft, der Astronaut. Dass sie ausgerechnet dem Weltraumfahrer einen der schönsten Genüsse konzedieren, die sich palatale Künstler verschaffen können, stimmt neidisch. Vom Astronauten, der in der Schwerelosigkeit angeblich nur mühsam trinken kann, heißt es: "Säfte formen sich außerhalb ihrer Trinkflaschen zu perfekten Schwebekugeln, die sich herumblasen oder kollidierend mixen lassen und dann aus der Luft mit einem Kuß getrunken werden können." Davon muß Sloterdijk geträumt haben, als er seine Sphärologie am Modell der Seifenblase entwarf.