Zimmerfluchten

Dramolette von Gert Jonke

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Irgendwie erschrocken, stößt SIE einen höheren Schrei aus, der fremdartig und irgendwie woanders her ihr aufgedrängt herausgelockt oder so anmutet und öffnet blitzartig das Fenster. Dann hört man vielleicht raumeinwärts Fliegengesumm durch die Zimmerluft vertorkelnd, das vielleicht darauf irgendwie abstürzen sollte oder verschwinden. SIE hat das Fenster rasch wieder geschlossen, um zu verhindern, daß die Stubenfliege irrtümlich wieder hinausfliegt."

Der Besuch einer Fliege. Wir wissen aus der Literaturgeschichte, was daraus entstehen kann - zumeist Komik, von Wilhelm Busch über Loriot bis Robert Gernhardt. Bei Gert Jonke wird es ein Dramolett. Und was für eines! Irgendwo recht vage, diese Regieanweisung aus "Vielleichts" und "Irgendwies". Schwer zu realisieren obendrein. Welche Fliege ließe sich so abrichten, könnte so brummen, dass man sie sähe und hörte - noch auf den letzten Rängen? Pure Episteme.

Die Vielleichts und Irgendwies sind Programm. Jonkes Dramolette, obwohl teilweise aufgeführt, sind Lesedramen. Dramen, die sich wahrhaft dramatisch entwickeln. Die Stubenfliege bekommt die Küche zugewiesen, erhält einen Namen (Elvira, das ist zugleich auch IHR Name!), kriegt ungarische Salami satt und wächst in unheimlicher Stille allmählich zum Monstertier heran. Eine spätere Regieanweisung liest sich wie eine Bildbeschreibung von Edvard Munchs "Der Schrei": "Je länger ER zu ihr über die Stille gesprochen hat, während SIE in die Stille hinter der verschlossenen Küchentür horcht und immer weiter in die Küche hinein von ihm fort zu kriechen versucht, geht SIE plötzlich dazu über, sich mit beiden Händen die Ohren zuzuhalten und scheint ihn mit einem aufgerissenen Mund mit einem Schweigebrüllen anzuschreien, aus dem nur angedeutet so etwas rauskommt wie 'hör auf' oder so."

Gert Jonkes Prosa-Dramolett "Elvira und die Stubenfliege" zitiert Bilder, ist selber im höchsten Maße bildhaft und weckt im Leser oder Zuseher Bilder. Auf der Bühne ist es wohl nur als Variante der Mauerschau inszenierbar. Natürlich denkt jeder Leser hier auch an Kafka, nicht nur des monströsen Insekts wegen, sondern auch, weil das Absurde, das sich hier ereignet, als Normalität gesetzt wird.

So auch in den anderen Texten. "Das Zimmer" beispielsweise hält "es in diesem Haus hier nicht mehr aus". Ständig wechseln die Mieter, die guten schneller, die schlechten lassen sich Zeit. Es ist schon ganz heruntergewohnt vor lauter Rücksichtslosigkeit. Im Dialog des Zimmers mit dem neuen Bewohner festigt sich sein Entschluss, abzuhauen. Es flieht zum Fenster hinaus, während das Haus "vor Wut zerbröckelt und sich selber vor die Füße schüttet". Ich muss an Bob, den Baumeister im Kinderprogramm denken, und an seine sprechende Zementmischmaschine: was die jetzt für Arbeit hätte!

Jonkes Dramolette sind wie Texte für Kinder: voller Wunder, voller Staunen, voller Übertreibung (zwei Texte heißen "Hyperbel"), doch alles so klug und wie selbstverständlich eingesetzt, alles an seinem Platz und mit einer genau kalkulierten Ökonomie des Erzählens, kein Satz zu lang, kein Wort zu kurz: "Schiffstauverklumpungsaufhäufung". Aber keine Angst vor solchen Ungetümen: denn jeder Auftritt ist eine "Entfesselungsnummer", ein Befreiungsschlag gegen das tradierte Sehen, ist ein Plädoyer für das raffiniert Naive und seine schöpferische Kraft. Ein Déjà-vu zugleich mit der noch unverschütteten Fantasie von einst, als unser Geist noch fluide war, gläubig und voller Vertrauen in eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten.

Titelbild

Gert Jonke: Insektarium.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2001.
112 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 3902144033

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