Verbrecher - Robinson - multiples Selbst: die Geschichte der Individualität

Michael Sonntag über "Das Verborgene des Herzens"

Von Eva KormannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Kormann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Im Mittelalter als ,Verbrecher' geboren, macht es in der frühen Neuzeit mit Luther vor dem Reichstag seine Trotzphase durch und gelangt schließlich seit dem 17. Jahrhundert in die harte Schule staatsväterlicher Autorität: Im Absolutismus wird es zum Untertan."

Dieser zählebige Nesthocker ist das europäische Individuum. Michael Sonntag verspricht mit Thomasius einen Blick in "Das Verborgene des Herzens" und auf die Geschichte der Individualität. Anders als deren frühe Historiker Georg Misch, Karl Weintraub oder James Olney sieht er diese Geschichte nicht als Selbstentfaltung des "autonomen Subjekts", die sich in Autobiographien und intimen Journalen "großer Menschen" entziffern lässt. Er sucht das "Verborgene des Herzens" in Beichtspiegeln und Polizeiordnungen, in Heeresverfassungen und Steuervorschriften:

"Als Arbeitshypothese soll im folgenden gelten, daß bei allen grundlegenden Veränderungen, die Bau und Organisation von Gemeinwesen bis heute durchlaufen, die ,Verfassung' des einzelnen Menschen wesentlich mit der je zeitgenössischen Verfassung des Politischen zusammenhängt, d. h. damit, ob und in welchem Maß Gestaltbarkeit des Gemeinwesens gegeben und wie diese konkret organisiert ist."

Die Geschichte des menschlichen Selbstverständnisses vom Mittelalter bis zur Gegenwart als soziokulturellen Prozess zu erklären, ist ein Desiderat in diesen Zeiten, in denen die Begriffe "Individuum" und "Individualität" ihre Unschuld verloren haben, die Historizität von menschlichen Selbstkonzeptionen erkannt und Vorstellungen vom autonomen Subjekt als Fiktion entlarvt worden sind. Sonntag versteht "Individualität" nicht in dem alten, engen Sinne, der kaum mehr als die Selbstdefinition eines europäischen, bürgerlichen, männlichen Menschen um 1800 erfasst. Mit einem schlagkräftigen Vergleich widerspricht er veralteten Vorstellungen vom Wandel der Selbstkonzeptionen als einer zielorientierten Fortschritts- oder Verfallsgeschichte:

"Im Mittelalter existieren andere Formen von Individualität als heute. Sie darauf zu untersuchen, ,wieviel' von den heutigen Formen sie schon enthalten, wäre das gleiche, wie die Werke des Hippokrates daraufhin zu befragen, wieviel sie schon zur Aids-Bekämpfung beitragen."

Das Interesse der Studie richtet sich "auf die Geschichte der Diskurse und Praktiken, in und mit denen Individualität 'gemacht' worden ist und 'gemacht' wird, auf die Beziehung, in der die je zeitgenössischen Individualitätsformen zur Ordnung des Gemeinwesens und den Strukturen der Herrschaft stehen." Hinter dem handlichen, gut formulierten und oft treffsicher-süffisant witzigen Band steht eine gewaltige Lektüre- und Durchdringungsleistung. Sonntag ist von Haus aus Psychologe, und das scharfsinnigste Kapitel seiner Darstellung ist das über die Individualität des 20. Jahrhunderts, über "die gelehrig-flexiblen, mobilen, mehrzweckfunktionalen, multiidentischen Individuen". Er zeigt, dass genau solche Menschen eine dynamische, immer globaler agierende Marktwirtschaft braucht. Und da eine solche flexible, sich mit großem Tempo verändernde Gesellschaft ihre integrativen Ressourcen erodiert, benötigt sie flexible, dynamische, pluralistische Techniken der Selbstbefriedung und der (Re-) Integration. Dies, so Sonntag, erklärt die Konjunktur der Psychologie im 20. Jahrhundert. An dieser Argumentation fasziniert vor allem, dass auch die neueren postmodernen Konzeptionen eines multiplen Selbst rückgebunden werden an soziale und wirtschaftliche Strukturbedingungen.

Wenn Foucault danach geforscht hat, wie Menschen Wissen über sich erwerben und dabei in den Archiven des Strafrechts, der Psychiatrie und der Medizin gegraben hat, hat er seine Funde stets in Beziehung zu einer Geschichte menschlicher Selbstkonstruktionen gesetzt und Strukturen von Produktion und Macht nie betrachtet, ohne die "Technologien des Selbst" und die von Zeichensystemen ins Auge zu fassen. Was Michael Sonntag als "Geschichte der Individualität" vorlegt, liest sich allerdings über weite Strecken als europäische Rechts- und Verwaltungsgeschichte vom Mittelalter bis heute. Im ganzen Text schiebt sich die Geschichte gesellschaftlicher Institutionen in den Vordergrund und drängt das Interesse an den dazugehörigen, unterschiedlichen menschlichen Selbstkonzeptionen in den Hintergrund.

"Das Verborgene des Herzens" wird so zu einer fundierten, angenehm und anschaulich geschriebenen Geschichte der europäischen Sozialdisziplinierung von der Strafe an Leib und Leben über Verfahren der Ein- und Ausschließung bis hin zu den heute allgegenwärtigen Technologien der Psychotherapie. Besonders in den Passagen zu Mittelalter und Früher Neuzeit sucht man nach Beziehungslinien zwischen gesellschaftlichen Strukturen und Selbstkonzeptionen nahezu vergeblich: Die Geschichte der Institutionen verselbständigt sich dort allzu sehr. Gelegentlich gerät dem Psychologiehistoriker dabei der eigene flexible Individualitätsbegriff aus dem Blick und "Individuum" erscheint dann doch als Etikett für die Seelenlage des bürgerlichen Mannes um 1800. Dass, wie und in welchem Umfang diese und andere Individualitätskonzeptionen durch die zeitgenössischen Geschlechtervorstellungen geprägt sind, ist diesem Band aus der Reihe "rowohlts enzyklopädie" leider nur wenige, kaum differenzierende Zeilen wert.

Titelbild

Michael Sonntag: Das Verborgene des Herzens. Zur Geschichte der Individualität.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
288 Seiten, 11,70 EUR.
ISBN-10: 3499555980

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