Die Lehre der Polis

Rolf Hochhuths Frankfurter Poetikvorlesung

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frankfurter Poetikvorlesungen sind eine Ehrung für verdiente Autoren, manche empfinden sie als Plage, kaum einer aber hat sich so darüber gefreut wie Rolf Hochhuth, und die Freude ist ganz auf unserer Seite: "Die Geburt der Tragödie aus dem Krieg", der Text seiner Vorlesungen, der jetzt in der edition suhrkamp erschienen ist, zeigt Hochhuth als Homo politicus, der eine klare, prägnante, bildhafte Prosa schreibt, die den weit ausholenden Bewegungen seines Vortrags ebenso wie der oft harschen, manchmal bitteren Mündlichkeit seiner Rede leichthin folgt.

Krieg, so Hochhuths These, war der Ursprung des Dramas, und politische Gründe führten zum ersten (dokumentierten) Verbot eines Theaterstücks: Der athenische Tragiker Phrynichos, Schüler des Thespis und Vorläufer des Aischylos, wurde um 492 zu einer Geldstrafe von tausend Drachmen verurteilt. Die Gesellschaft verzieh es ihm nicht, dass Phrynichos in "Der Fall von Milet" ein Sakrileg begangen und "vaterländisches Unglück" auf die Bühne gebracht hatte; das Urteil erzwang die "damnatio memoriae", die Vernichtung seiner Aufzeichnungen, und schon Herodot soll das Stück nicht mehr gekannt haben.

Themistokles, damals Archont in der Funktion des Verteidigungsministers, konnte die Ächtung des Stückes nicht verhindern. Themistokles kämpfte in Athens Bürgerschaft für die Finanzierung einer schlagkräftigen Flotte, denn Milets Untergang und die Versklavung seiner Bevölkerung waren ihm warnendes Beispiel.

Kein Wort davon bei Nietzsche, kein Gedanke an diesen frühen Konnex von Literatur und Politik in seiner Tragödienschrift, obwohl er als Gräzist und Burckhardt-Schüler von Phrynichos gewusst haben muss. Nicht Musik war also der Ursprung der Tragödie, sondern Politik, und Hochhuth weiß eine ganze Reihe weiterer Argumente für seine These anzuführen, Argumente ganz verschiedener Natur und Provenienz: "Politik problematisiert, Musik moderiert", lautet eines der schlagendsten, und er führt dessen Überzeugungskraft bis zu Hitler vor, der die Oper liebte, doch den "Tell" verbieten ließ.

Die Macht der Beispiele, die Hochhuth aufbietet, die Erregung über den Ungeist nach 1945, der schließlich seine eigenen Arbeiten provozierte ("Juristen", "Eine Liebe in Deutschland", "Die Hebamme"), das Verhältnis von Demokratisierung, Kultur- und Subventionspolitik und dem Wagemut des Autors, der sich ein Mindestmaß an Freiheit erkämpfen muss - all dies zusammen genommen zeugt vom Konflikt als produktivem Potential, der Grundvoraussetzung großen Theaters. Im dritten und vierten Teil seiner Vorlesungsreihe durchkämmt Hochhuth Memoiren, Tagebücher und Briefe nach Belegen für seine These, dass man auch der Demokratie - wie jeder anderen Staatsform - mit Skepsis begegnen müsse, weil sie selbst den besten unabhängigsten Bürger vom politischen Fetischdienst nicht freigebe. Diarien, Autobiographien, Arbeitsjournale, so Hochhuth, sind nicht selten "Tatorte", die mehr über den politischen Instinkt der Autoren verraten als ihr "poetisierter Realismus". In seiner ungeheuren synkretistischen Belesenheit kommt Hochhuth zu dem Fazit, dass derjenige Autor sich nichts vergibt, "der bei der Polis in die Lehre geht".

Titelbild

Rolf Hochhuth: Die Geburt der Tragödie aus dem Krieg. Frankfurter Poetikvorlesungen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
308 Seiten, 12,20 EUR.
ISBN-10: 3518121057

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