In der Seele fischen

Francisco Tanzers Gedichtband "Blätter" ist ein Wunder an Sprachpräzision

Von Daniel GerberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Gerber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf die Frage, wie ein Gedicht beschaffen sein müsse, um Komponisten zu einer Vertonung zu reizen, antwortete der Musikwissenschaftler Lutz Lesle: "Prosamusikalisch" und meinte damit, dass der Text nicht schon von selbst klingen dürfe, sondern dem Komponisten genug schöpferische Lücken bieten müsse. Francisco Tanzer, dessen Gedichte gleich mehrere Komponisten inspirierten, ist solch ein Meister der Andeutung, des sparsamen und klugen Einsatzes von Worten.

Seine lyrischen Miniaturen, die nun erstmals in einem Band vereinigt sind, handeln vom Leben in all seinen Facetten. Es geht um Arbeit und Reisen, Kunst und Natur, Alltag und Tod. Vor allem aber spricht Tanzer von Liebe und somit auch von Trauer, Zweifeln und Einsamkeit. Dies macht er so gut, dass man das schmale Bändchen gar nicht mehr aus der Hand legen, sondern gleich auslesen möchte. Immer wieder beleuchtet er "Du" und "Ich", wie sie einander umkreisen, sich anziehen, abstoßen und endlich zu einem "Wir" vereinigen. "Ich wachte auf / und war / genesen / denn du / bist dagewesen" ("Allein"). Aber auch die Trennung, wenn das "Wir" wieder in zwei Individuen zerfällt, ist ein Thema. Mit der gleichen Behutsamkeit, mit der Francisco Tanzer eine geglückte Liebe feiert, trauert er um eine verflossene. Nichts ist maßlos an seinen Texten, ungestüme Emotionen fehlen, dafür kann hinter den schlichten Worten die wahre Liebe erahnt werden: "Leises / Atmen / ein / und aus / aus und / ein / in / der Stille / atmendes / Zusammen- / sein."

Hat sich der Leser erst an Tanzers Wortwahl und Schreibweise gewöhnt, wird ihm die Kunstfertigkeit dieser Lyrik offenbar. Mag beim ersten Lesen noch irritieren, dass bei manchen Gedichten jedes Wort in einer neuen Zeile steht, ja manchmal ein Wort sogar zwei Zeilen für sich beansprucht, so wird bei wiederholter Lektüre deutlich, wie wichtig dies Aufladen jedes einzelnen Wortes mit Bedeutung für den Gesamteindruck ist. Die Sparsamkeit der Worte erinnert an japanische Silbengedichte, wo das Fehlen eines einzigen Begriffs sofort das ganze Gedicht zusammenstürzen lässt.

Da der in Wien geborene Francisco Tanzer mehrere Jugendjahre in Paris verbrachte und nach dem Zweiten Weltkrieg in New York studierte, spricht er drei Sprachen fließend. Seine Trilingualität bringt er auch in seine Gedichte ein. Wenn er beispielsweise dreimal über das kurze Glück eines Liebespaares schreibt - auf Deutsch, Englisch und Französisch -, so sind die verschiedenen Fassungen nicht einfach Übersetzungen, sondern drei unterschiedliche Annäherungen an das Thema, in ihrer Form der jeweiligen Sprache angepasst. In "Requiem" vereinigt er sogar alle drei Sprachen und beginnt sein fünfaktiges Gedicht über das Leben mit: "birth / geboren / né / atmen / breath / respirer", um mit der Frage zu schließen: "Gott / gut / good / god?..."

Die thematisch sehr weit gefasste Sammlung setzt sich immer wieder mit dem Tod auseinander - sowohl im übertragenen Sinn, etwa wenn eine Liebe zu Ende geht, wie auch im realen Sinn. Und dennoch macht die Lektüre dieser Gedichte nicht schwermütig. Tanzer verfasst keine Depressiv-Reimereien sondern melancholische Verse, die immer wieder, mal versteckt, mal ganz offen von humoristischen Aufhellern durchsetzt sind. "Verscheuch / die rußigen / Gedanken / Nur Heiterkeit / öffnet / die Schranken."

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Francisco Tanzer: Blätter. Gedichte.
Grupello Verlag, Düsseldorf 2001.
112 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3933749557

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