Urbane Zonen, technische Geräte

"Lyrik der neunziger Jahre" beleuchtet unterschiedliche Ästhetikkonzepte

Von Andrea EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Lyrik der neunziger Jahre" lautet der nüchterne Titel von Reclams Gedichtanthologie, pünktlich zur Jahrtausendwende erschienen. "Lyrik der neunziger Jahre" beschreibt nicht nur den zeitgeschichtlichen Zusammenhang der hier versammelten Gedichte, sondern bezieht sich auch auf die unterschiedlichen ästhetischen Konzepte der modernen Lyrik. Der Herausgeber Theo Elm baut damit auf der 1992 erschienenen Sammlung "Kristallisationen. Deutsche Gedichte der achtziger Jahre" auf. Was sich in der Lyrik der achtziger Jahre bereits erkennen ließ, manifestiert sich im letzten Jahrzehnt des ausgehenden Jahrhunderts: die Polarität zwischen "Erlebnislyrik" und "Transitpoesie".

Ausgehend vom ästhetischen Gegensatz zwischen Ulla Hahn und Durs Grünbein entfaltet sich ein Panorama der deutschen Gegenwartslyrik. Während sich Ulla Hahn in ihrem Programmgedicht "Ars poetica" als "Ich-Erleberin" offen zur Tradition der Erlebnislyrik bekennt, distanziert sich Durs Grünbein in seinen Gedichten deutlich von dieser Form der Subjektivität. An die Stelle personeller Sinnstiftung setzt er den Blick für das materielle Faktum. Durs Grünbein versteht das "Ich" als Vexierbild und bezeichnet es in seinen Gedichten als "bedingten Reflex" ("Homo sapiens correctus"), "Neuronales Netz" oder "Black Box" ("Ode an das Dienzephalon"). Im Zeitalter der Beschleunigung und Medialisierung, so glaubt er, kann der Künstler keine festen Positionen mehr einnehmen und Räume und Ortschaften lediglich passieren. Das Gedicht kann nur noch Ausschnitt, Provisorium sein. Die Vorstellung der "transitorischen" Poesie bedingt auch eine Erweiterung des Kunstbegriffs: das Unästhetische ist Teil des Ästhetischen. Slang, Werbung und Wissenschaft finden Eingang in die Sprache der Transitpoesie, das banal Alltägliche wird zum Teil des ästhetischen Konzepts.

Der exemplarische Abstand zwischen Ulla Hahn und Durs Grünbein ist der Ausgangspunkt einer Reise durch die "Lyrik der neunziger Jahre". Zahlreiche renommierte Autoren sind hier vertreten. Jürgen Becker und Sarah Kirsch stehen neben Volker Braun, Thomas Kling und Wolf Biermann. Für den Leser ermöglicht das breite Spektrum der Autoren nicht nur eine Orientierung in der zeitgenössischen Lyrikrezeption. Bekanntes wird in Erinnerung gerufen, Neues kann entdeckt und erobert werden, Unterhaltsames korrespondiert mit Ernsthaftem. Dabei reichen die Themen von den strapazierten Existentialien wie Leben, Liebe, Kindheit, Alter, Glück und Tod und deren subjektivem Ausdruck bis hin zu demonstrativ Unpoetischem: urbane Zonen, technische Geräte, Biologie und Körperlichkeit. Hoffnungsvolles und Desillusionierendes wechseln einander ab. Dabei finden sich die Gegensätzlichkeiten schon in den Titeln wieder. "Ich werde dich bald erreichen" lautet ein Gedicht von Ulla Hahn, Ulrike Draesner antwortet mit "autopilot III".

Titelbild

Lyrik der neunziger Jahre.
Herausgegeben von Theo Elm.
Reclam Verlag, Stuttgart 2000.
218 Seiten, 5,10 EUR.
ISBN-10: 3150180481

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