Physik als Metapher in Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften"

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die anspruchsvolle Kölner Dissertation Christian Kassungs bahnt einen neuen, einen "archäologischen" Weg zu Musils Roman. Literatur und Physik, so lautet Kassungs methodisches Credo, interferieren nicht auf der Ebene von Irreversibilität, Wärmetod und Entropie, sondern auf der erkenntnistheoretisch vorgelagerten Ebene einer "Epistemologisierung der Physik und Poetologisierung der Literatur". Indem der Autor die naturwissenschaftlichen Referenzen des Romans nachzeichnet, wird deutlich, dass Musil die aus (akustischen, statistischen, meteorologischen, wärmetheoretischen usw.) Fakten emergierenden Wissensbestände nicht einfach in seinen Roman hinüberzieht. Vielmehr dringt er literarisch zu den ihnen zugrundeliegenden Strukturen vor, d. h. zu ihren Möglichkeitsbedingungen. Die vordergründige Inkompatibilität der physikalischen Stukturmomente mit dem erfahrenen Lebensprozess führt dazu, dass auch die Poesie in der beschriebenen Weise selbstreferenziell wird: "Musils ,große Frage' lautet, wie es denn überhaupt Leben, Liebe, Eigenschaften oder das Fortkommen eines Romanes geben kann, wo doch auf Mikroebene alles statistisch, und das heißt eben reversibel, hin- und herpendelt."

F. M.

Titelbild

Christian Kassung: Entropiegeschichten. Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" im Diskurs der modernen Physik.
Wilhelm Fink Verlag, München 2001.
566 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3770535197

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