Sachlich sein, heißt in der Zeit sein

Sabina Beckers Monographie und Dokumentensammlung zur Literatur der Neuen Sachlichkeit

Von Michael GriskoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Grisko

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Verbunden mit der charakteristischen Attitüde der 'Kälte', dem Motiv des 'Gleisdreiecks' und dem Ingenieur als repräsentativem Typus firmiert die Neue Sachlichkeit als letzte geschlossene literarisch-ästhetische Epoche des 20. Jahrhunderts. Es ist das Verdienst der im letzten Jahr erschienenen Habilitation von Sabina Becker, diesem Zeitraum, vor allem hinsichtlich der "Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920-1933)", eine neue Tiefenschärfe verliehen zu haben.

Die Autorin, seit 1995 Herausgeberin des "Jahrbuchs zur Literatur und Kultur der Weimarer Republik", lässt sich auf die in dieser Detailliertheit noch nicht aufgearbeiteten und dokumentierten programmatisch-poetologischen Diskussionen um die literarische Neue Sachlichkeit ein. Bevorzugte Orte dieser Debatte waren Essays in den zeitgenössischen Literaturzeitschriften (z. B. der "Scheinwerfer", die "Neue Weltbühne" oder der "Querschnitt"), das damals allseits beliebte und intellektuell gepflegte Feuilleton in den überregionalen Zeitungen (z. B. "Frankfurter Zeitung") oder die den Romanen vorangestellten "Gebrauchsanleitungen" und Vorreden.

Sabina Becker versteht ihre Arbeit als notwendige literarhistorische Ergänzung bereits vorliegender kulturwissenschaftlicher Arbeiten zur Weimarer Republik, die ihre Analysen vor allem auf das Paradigma der 'neusachlichen Kälte' stützen. Diesen Ansatz erachtet die Autorin als unzureichend für das adäquate Verständnis der Poetik der neusachlichen Literatur. Sie zielt aber nicht auf die Positionierung einer neuen Metapher, sondern konzentriert sich im besten Stil quellenorientierter Arbeiten auf die Darstellung und Rekonstruktion der poetologischen Kontroversen. Sie sind in einem umfangreichen Materialienband gesondert dokumentiert. Dessen Zusammenstellung konzentriert sich auf literarhistorische und ästhetische Fragestellung. Im Gegensatz zu dem bislang verwendeten 'Klassiker' von Anton Kaes (in der Reihe "Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur" ) - mit dem es in der Textauswahl wenige Überschneidungen gibt - verzichtet die Autorin auf die dezidierte Darstellung der medialen, politischen und gesellschaftlich-kulturellen Einflüsse auf die Literatur und den literarischen Betrieb.

"Präzisionsästhetik", "Vivisektion" oder "Beobachten und nicht dichten"

Bereits das von der Autorin zur Strukturierung herangezogene Vokabular der 20er Jahre entwirft in markanten Umrissen die zeitgenössische literarische Produktions- und Rezeptionsästhetik. Während Alfred Döblin mit seiner Forderung eines "Neuen Naturalismus" mehr oder weniger zum Ahnherren der Neuen Sachlichkeit wird, finden sich in den Schlagworten "Antiexpressionismus", "radikaler Realismus" und "Neuer Klassizismus" die schon in der Etikettierung umstrittenen epochenspezifischen Abgrenzungsbewegungen, die Anlass zu Diskussionen sind und in ausdifferenzierten Sachlichkeitsdebatten münden.

Vielfalt in der Einheit, könnte die Titelei zu Sabina Beckers ästhetisch-literarischem Epochenüberblick lauten. Denn, sei es als Folge der zunehmenden gesellschaftlichen Ausdifferenzierung oder des abnehmenden Glaubens an normative Poetiken, die bei den vorangehenden 'Ismen'-Bewegungen so augenfällige ästhetische und organisatorische Geschlossenheit fehlt hier. Zwar gab es einige tonangebende Zeitschriften und Redakteure, aber ein Organ, ein Ort oder eine Vereinigung zur integrativen und programmatischen Arbeit fehlte.

Einig war man sich in der Ablehnung des durch den Krieg diskreditierten ideen- und geisteslastigen Expressionismus. Hermann von Wedderkopp pointierte diese Kontrast-Programmatik im Jahr 1922/23 in der wuchtigen Sentenz "Expressionismus ist Dauerkrampf". Als Quintessenz proklamatierten die Wortführer der literarischen Avantgarde eine neue, eine sachliche Literatur. Die illusionslose und sich in der Gegenwart realisierende "Tatsache" wird zur paradigmatischen Größe. In der Folge entwickeln sich die Gattungen des Berichts und der Reportage, in denen mustergültige Beobachtung (Vivisektion), Nüchternheit, Dokumentarismus, Sachlichkeit, genaue Schilderung (Präzisionsästhetik) und Antipsychologismus vorherrschen, zu den bevorzugten Genres einer 'Tatsachenpoetik mit Gebrauchswert'. Im Bereich der erzähltechnischen Realisationen geht mit diesen programmatischen Setzungen ein Verzicht auf introspektive Schilderungen und damit das Ende des psychologischen Romans einher.

Die Neue Sachlichkeit präsentiert sich also als anti-idealistische Kunstrichtung, die mit liebgewonnenen und tradierten Formen der bürgerlichen Kultur bricht. Der viel beschworene Gebrauchswert zieht nicht nur eine Auflösung der traditionellen Gattungsgrenzen nach sich, sondern impliziert im Verständnis der beteiligten Autoren auch eine Erweiterung der Literatur zu einem demokratisch-kritischen Massenmedium. Mit diesem Tatsachenavantgardismus wollen die Autoren ( ohne selbst affirmative Massenkultur zu produzieren ( auf "veränderte Rezeptionsstrukturen und -vorstellungen" im Zeitalter der Massenmedien reagieren. Basis dieses Programms ist die zumindestens "partielle" Akzeptanz der politischen Ordnung und Verfassung und die Absage an eine anti-moderne und pessimistische Haltung. Der Literatur kommt in dieser Konsequenz und unter den neuen politisch-gesellschaftlichen Bedingungen die Aufgabe der Vermittlung demokratischer Ideen und der Simulation demokratischer Praxis zu. Sie wird aber auch zum aufklärenden und anklagenden Medium, denn, so forderte Erik Reger im Jahr 1931, der "Roman muß die Bedeutung einer Zeugenaussage vor Gericht, das Drama die einer vollständigen Beweisaufnahme haben".

Die Lyrik übernimmt ( als konsequenter Verlierer der literarischen Modernisierung ( die Rolle des 'häßlichen Entleins'. Sensibler Chronist des Bedeutungsverlustes des Gedichtes im Zuge einer Ent-Sentimentalisierung und eines latenten Technofetischismus ist u. a. Walter Kiaulehn. Ironisch kommentiert er 1931: "Die Lyrik wird heute von den Reklamechefs der Stiefelwichsefabriken und von den Unfallverhütungspsychologen der B.V.G. verwaltet, und diese Tatsache erklärt uns vielleicht, warum die Poeten sterben müssen. Nicht etwa, weil man von Stiefelwichse und Verkehrsunfällen nicht leben kann, sondern weil es sich nicht mehr lohnt, über andere Dinge zu dichten. Die Lyrik stirbt an dem technischem Fortschritt, an den Automobilen, an der Hygiene und an den kurzen Röcken."

Der Autor: zwischen Erfinder, Vermittler und Gestalter

Die fortschreitende Funktionalisierung der Literatur, die begleitet wird von einer völligen Unsentimentalität der Betrachtung, einem nüchternen Blick, einer knappen Bildhaftigkeit, dem Verzicht auf Metaphern, Pathos und lyrische Zutaten, ist jedoch weiterhin mit einem Autorenindividuum verbunden, das auf eine subjektive Färbung der Ereignisse setzt und eine aufklärerische Intention für seine Texte reklamiert. Ob insofern von einer Tendenz der "zunehmenden Entauratisierung" der Literatur gesprochen werden kann, wie dies die Autorin tut, scheint fraglich.

Bedeutsam wird die Frage nach der Funktion des Autors - zwischen Erfinder, Vermittler und Gestalter - für die zahlreichen Kritiker der Neuen Sachlichkeit. Diese lässt Sabina Becker im zweiten Teil ihrer Studie zu Wort kommen. Vor allem konservative und marxistische Kritiker - allen voran Georg Lukács ( erklären die Neue Sachlichkeit zum Zielpunkt ihrer Angriffe. Sie betonen die Rückkehr zu einem bewusst gestaltenden und subjektiv durchscheinenden Autor. Denn eine verstärkt auf psychologische Elemente zurückgreifende Ästhetik soll nicht nur Einfluss auf die vernachlässigte künstlerischere Gestaltung haben, sondern auch eine Rückkehr zum Dichter klassischer Provenienz ermöglichen. Die mit dieser Kritik verbundenen Verbalattacken werden, wie bei Hermann Kasack, nicht selten zur spottenden Abrechnung: "Song statt des Gedichts, Reportage statt der Epik, Tendenz statt des Dramas ergeben die billige Gleichung: Leben des Lesers, Durchschnittsleben, gleich Kunst. Die Psychose, in der sich die gegenwärtige Literatur zu Markte trägt, bewirkt eine Sabotage aller großen Dichtung."

Kritik entzündet sich auch an der Ästhetik der 'scheinbaren' Neutralität und der unkommentierten Beobachtung, die im Zuge der virulenten politischen Situation Ende der 20er Jahre geradezu folgerichtig zu einer ästhetischen Kontroverse führen musste. Zum Auslöser dieser Diskussionen wird die politische Vereinnahmung der zunehmend in Mode gekommenen Kriegsromane jeglicher Couleur ( von Reger über Glaeser zu Remarque und Bronnen. Diese Dienstbarmachung vor allem linker Autoren für die Argumentation nationaler und rechter Gruppierungen zu Beginn der 30er Jahre lässt nicht nur die ohnehin aufmerksamen Kritiker lauter werden, auch die Binnenkritik wird schärfer. Schließlich wird das Vertrauen der Autoren in die aktive Integration des mündigen Lesers vor dem Hintergrund der zunehmenden politischen Polarisierung zur folgenreichen Enttäuschung eines emanzipativen Programms. Schnell publizierte Präzisierungen, rezeptionssteuernde Vorworte und die Formulierung eindeutiger politischer Signale werden zum literarischen Betätigungsfeld verunsicherter Autoren. Die hektischen Bemühungen erscheinen vor dem politischen Hintergrund als seismographischer (und hilfloser?) Reflex der literarischen Szene kurz vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten.

Weniger Kälte, denn Tatsachen und vielfältige Sachlichkeiten

Abweichend von ausgetreten Pfaden lässt Sabina Becker gängige Rezeptionsmuster außen vor und konzentriert ihre Analyse nach einigen notwendigen historischen, inhaltlichen und strukturellen Abgrenzungen auf die Rezeptions- und Diskussionsdokumente der Debatte. Sie verzichtet zu Recht auf die Verifizierung oder Falsifizierung der poetologischen Konzeptionen durch die poetische Praxis. Die Resultate sind nicht immer neue, aber mitunter erstmals fundierte Zustandsbeschreibungen und Erkenntnisse. Sie betreffen etwa den menschenverachtenden Charakter des Ersten Weltkriegs und seine Bedeutung für die Abwendung vom Expressionismus, die parallel laufende ästhetische Entwicklung in den Bereichen der Literatur und der Bildenden Kunst oder die Kontinuität der literarischen Ästhetik im Exil. Als überholt sollte nach der vielschichtigen Analyse die Bestimmung der Neuen Sachlichkeit als Produkt der Stabilisierungsphase gelten.

Die Darstellung der Kontroverse um die poetologische Dimension der Neuen Sachlichkeit profitiert in seiner Schärfe von der rhetorischen Unterhaltsamkeit aller am Diskurs Beteiligten. Das geistig-bewegliche und wortreich-eloquente Feuilleton der 20er Jahre bereitet noch in der Rückschau ein intellektuelles Vergnügen, wie es ästhetische und kulturelle Debatten heute nur noch selten bieten.

In der Rekonstruktion und Dokumentation dieses Diskurses eröffnen sich spannende kulturwissenschaftliche Perspektiven, die von der Autorin jedoch nicht weiter ausgeführt werden. Dass man diesen Ausblick ( und sei er nur fußnotenorientiert - einzufordern geneigt ist, kann man sicherlich nicht nur als Reaktion auf den Stand der Wissenschaftsdebatte verstehen. So reicht gerade im Zusammenhang mit der Frage nach der Bedeutung der 'Beobachtung' und deren Wiedergabe ein Halbsatz zu den 'neuen' Medien Fotografie und Film nicht aus. Die gegenwärtige Fülle von Forschungen, die sich mit der Entwicklung von 'Wahrnehmung' und deren konstitutiver Bedeutung für die Kultur der Moderne auseinandersetzt, kann man nicht ohne Schaden umgehen.

Darüber hinaus hätte man sich auch eine stärkere kritische Kontrastierung der vorgestellten ästhetischen Eckpunkte vorstellen können. So etwa bei Begriffen wie 'Reportage' und 'Bericht', die in der damaligen Zeit quasi synonym gebraucht wurden.

Diese notwendigen Einsprüche des Rezensenten stellen den Wert der Arbeit jedoch nicht wesentlich in Frage. Das zweibändige Opus dürfte sich als unentbehrliches Haupt- und Quellenwerk zur Poetik der Neuen Sachlichkeit etablieren. Es liefert wichtige Bausteine für eine immer wieder neu zu entwerfende Mentalitätsgeschichte der Weimarer Republik.


Titelbild

Sabina Becker: Neue Sachlichkeit. Band 1: Die Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920-1933). Band 2: Quellen und Dokumente.
Böhlau Verlag, Köln u. a. 2000.
Zusammen 905 Seiten, 96,10 EUR.
ISBN-10: 341215699X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch