Biologismus und Kulturalismus

Vorbemerkungen

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist schon merkwürdig: Seit etwa der gleichen Zeit, in der sowohl die alten Geistes- als auch die Sozialwissenschaften eine "kulturelle Wende" vollzogen haben, "Kultur" bei ihnen in geradezu inflationärem Ausmaß zum Leitbegriff avanciert ist und das, was man vormals gerne der "Natur des Menschen" zuschrieb, als "kulturelles Konstrukt" gilt, grassiert ein neuer Biologismus. Dieser weist vor allem in Gestalt der Hirnforschung, der Soziobiologie und der Neurogenetik mit erheblicher öffentlicher Resonanz allen kulturellen Prägungen einzelner Subjekte und Gesellschaften eine marginale Bedeutung zu.

Kulturalismus und Biologismus florieren und koexistieren heute auf eine noch unzureichend reflektierte Weise. Die Positionen, die ihnen zugrunde liegen, scheinen in ihrer Gegensätzlichkeit schon lange festgeschrieben. Der britische Biologe Steven Rose, der einige "ultradarwinistische" Vertreter seiner eigenen Wissenschaft wiederholt heftig kritisiert hat, markiert sie in seinem Buch "Darwins gefährliche Erben" durch zwei extrem konträre Zitate. Das eine ist Jean-Paul Sartres Schrift "Ist der Existentialismus ein Humanismus?" entnommen. Es gebe keine "menschliche Natur", schreibt Sartre hier. "Der Mensch ist lediglich so, wie er sich konzipiert - ja, nicht allein so, sondern wie er sich will". Er sei "nichts anderes, als wozu er sich macht". Daher "kann man nie durch Bezugnahme auf eine gegebene und feststehende menschliche Natur Erklärungen geben." Das andere Zitat ist dem Buch "Das egoistische Gen" von Richard Dawkins entnommen und lautet: "Wir sind Überlebensmaschinen - Roboter, blind programmiert zur Erhaltung der selbstsüchtigen Moleküle, die Gene genannt werden."

Sartres Vorstellung von der prinzipiellen Freiheit des einzelnen menschlichen Subjekts hat der gegenwärtige Kulturalismus hinter sich gelassen, nicht jedoch die antinaturalistische Einstellung. Diese hält zwar nicht an der Autonomie des Einzelnen, doch sehr wohl an der Autonomie transindividueller Kulturen gegenüber naturbedingten Determinanten fest. Giambattista Vico, den unlängst wieder Friedrich Kittler zum Gründervater der Kulturwissenschaft erklärte (vgl. die Rezension in dieser Ausgabe), hatte im Jahrhundert der Aufklärung eine "neue Wissenschaft" propagiert, die sich programmatisch mit dem befassen sollte, was von den Menschen selbst gemacht worden ist. Der Wissenschaft einer nicht von Menschen geschaffenen Natur stellte er eine andere gegenüber: die Wissenschaft von einer "historischen Welt, die die Menschen erkennen können, weil die Menschen sie geschaffen haben."

Den Begriff "Kultur" in der Tradition Vicos hat der Soziologe Andreas Reckwitz in einer umfassenden und systematischen Rekonstruktion neuerer Kulturtheorien (vgl. die Rezension in dieser Ausgabe) als "holistisch" oder auch "totalitätsorientiert" bezeichnet. Denn: "Kultur stellt sich hier als all jenes dar, was vom Menschen selbst 'hergestellt' wird, und damit als das, was nicht als biologisch determiniert erscheint. Kultur ist damit alles, was nicht Natur ist."

Der Aspekt menschlicher Autonomie gegenüber biologischen Zwängen macht noch heute etwas von der Attraktivität des Kulturbegriffs aus. Und noch heute ist mit der Gegenüberstellung von Natur- und Kulturwissenschaften dort, wo sie beide mit menschlichem und zwischenmenschlichem Verhalten befasst sind, die Begriffsopposition Zwang und Freiheit eng assoziiert. Zu den oft impliziten, doch durchaus bewusst gesuchten Effekten jener gegenwärtig so beliebten Rede von der sozialen oder kulturellen Konstruktion bestimmter Wirklichkeiten gehört die Verbreitung der Vorstellung, dass diese Phänomene nicht so sein müssen, wie sie sind, dass sie nicht natur-, sondern kulturabhängig sind, dass sie sich historisch permanent verändern und also auch veränderbar sind.

In dieser Hinsicht steht der gegenwärtige Kulturalismus in der Tradition älterer Ideologiekritik. Diese hatte Ideologien als "verdinglichtes Bewusstsein" beschrieben. In Anlehnung an marxistische Ideologie-Konzepte, doch dominant geprägt durch einen ganz anderen, nämlich phänomenologischen Theoriehintergrund, der weite Teile heutiger Kulturtheorien nach wie vor stark beeinflusst, hatten Ende der sechziger Jahre Peter L. Berger und Thomas Luckmann in ihrem soziologischen Klassiker "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" den Begriff der "Verdinglichung" so expliziert: "Verdinglichung bedeutet, menschliche Phänomene aufzufassen, als ob sie Dinge wären, das heißt als außer- oder übermenschlich. Verdinglichung ist die Auffassung von menschlichen Produkten, als wären sie etwas anderes als menschliche Produkte: Naturgegebenheiten, Folgen kosmischer Gesetze oder Offenbarungen eines göttlichen Willens. Verdinglichung impliziert, daß der Mensch fähig ist, seine eigene Urheberschaft der humanen Welt zu vergessen [...]. Eine verdinglichte Welt ist per definitionem eine enthumanisierte Welt. Der Mensch erlebt sie als fremde Faktizität, ein opus alienum, über das er keine Kontrolle hat, nicht als opus proprium seiner eigenen produktiven Leistung."

Als eine der Manifestationen des derart verdinglichten Bewusstseins galt damals jener Biologismus, der soziale Ungleichheiten zwischen Klassen, Rassen und Geschlechtern als genetisch festgelegt begriff oder Kriege und Konkurrenzkämpfe als biologisch notwendig geregeltes Prinzip der Auslese interpretierte. Durch den Nationalsozialismus in Deutschland waren solche Deutungsmuster gründlich in Misskredit geraten. Doch schon in den siebziger Jahren konnte man etliche Versuche beobachten, sie zu restaurieren. Als "Soziobiologie" gewannen sie in diesem Jahrzehnt sogar theoretische Kohärenz. Erst in den achtziger Jahren allerdings wurde, wie Steven Rose konstatiert, "aus dem Rinnsal" biologistischer Behauptungen "ein reißender Strom". Die dramatischen Fortschritte auf den Gebieten der Gen- und Hirnforschung setzten ihn in Bewegung. Mit ihnen erreichte der Biologismus eine neue Qualität.

Steven Rose hat diese zwar erkannt, doch seine Biologismuskritik trifft die Konsequenzen der neuesten Entwicklungen nur in Ansätzen. Denn die traditionelle Gegenüberstellung von kultureller Freiheit und biologischer Determiniertheit scheint inzwischen hinfällig geworden zu sein. Die Genforschung der letzten Jahre steht kaum noch im Zeichen ideologischer Rechtfertigung sozialer Ungleichheiten und der blockierenden Skepsis gegenüber sozialen Emanzipationsbewegungen. Sie bezieht ihr Prestige heute vielmehr aus geradezu ungeheuerlichen Freiheitsverheißungen. Die gelungene Kartierung und Sequenzierung des menschlichen Genoms nährt inzwischen Hoffnungen, gegenüber denen alle früheren Visionen sozialen und kulturellen Fortschritts blass erscheinen. Der neue Biologismus verweist die Autonomieansprüche des modernen Subjekts nicht mehr in seine Grenzen, sondern stellt ihnen zuvor ungeahnte Möglichkeiten in Aussicht. Was die rapide gewachsene Verfügung über Gene und Gehirne im Interesse individueller oder kollektiver Gesundheit zu leisten verspricht, lässt die mühsamen Anstrengungen menschlicher Selbstkultivierungen hilflos und schwach erscheinen. Selbst ein Kulturphilosoph wie Peter Sloterdijk mochte dem Sog gentechnologischer Heilserwartungen nicht widerstehen (vgl. literaturkritik.de Nr. 10-1999). Hingerissen ist jedoch vor allem auch die neoliberale Ökonomie: "Manipulationsmethoden, die noch vor 10 Jahren kaum vorstellbar oder höchstens wie Stoffe einer Science-Fiction-Erzählung erschienen wären, lassen heute Börsenkurse erbeben und machen aus Akademikern und Forschern Unternehmer und Millionäre." So die weiterhin skeptische Sicht von Steven Rose.

Dessen Kritik an der Neurogenetik bleibt freilich noch dem alten Vorwurf gegenüber dem biologistischen Reduktionismus und Determinismus verhaftet. Ihnen setzt Rose eine "homöodynamische" Vorstellung von Lebensprozessen entgegen. Zentrale Eigenschaft allen Lebens sei "die Fähigkeit und die Notwendigkeit, sich selbst zu organisieren, zu unterhalten und zu bewahren." Dieses Phänomen der "Autopoiese" gelte für menschliches Leben in besonderem Maße. "Mehr als alle anderen Lebensformen auf der Erde schaffen wir Menschen unsere eigene Geschichte." Diese biologische Perspektive steht der kulturalistischen nahe, die der Anfang der siebziger Jahre entwickelten Theorie "autopoietischer Systeme" der chilenischen Biologen Maturana und Varela wichtige Anregungen verdankt. Sie unterscheidet sich jedoch auch von den neuesten Verheißungen der Gentechnologie, dass Menschen die Möglichkeit erhalten, sich ihre eigene Natur selbst zu schaffen, zumindest in einer Hinsicht nicht mehr fundamental. Die alte Entgegensetzung von unveränderlicher Natur und einer sich ständig verändernden und prinzipiell veränderbaren Kultur ist ins Wanken geraten. Biologismus und Kulturalismus konvergieren mittlerweile in dem Bewusstsein, dass die menschliche Natur ein Konstrukt menschlicher Selbstbestimmung ist oder zumindest sein könnte.

Der Biologe Hubert Markl, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, wies sich in seiner umstrittenen Rede vom 22. Juni 2001 als Kulturalist aus: Die Rede vom "Menschen", so Markl, sei "eine selbstbezügliche Redeweise von Menschen, deren Bedeutung nicht die Natur festlegt." Oder in anderen Worten: "'Mensch' ist ein kulturbezogener Zuschreibungsbegriff von Menschen und keine rein biologische Tatsache". Markl unterstellt hiermit die humangenetische Forschung und Technologie der kulturellen Konsensbildung. Er wurde dafür zum Teil heftig kritisiert. Die Frankurter Allgemeine Zeitung berief sich dabei auf "absolute Normen", die jeder kulturalistischen Relativierung widerstehen. Es gehört allerdings zu den Verdiensten dieser Zeitung, die öffentliche Debatte zur Gentechnologie dem Feuilleton und nicht dem Wissenschaftsressort zu unterstellen. Den kulturalistischen Blick auf die Naturwissenschaften und ihre Gegenstände hat sie damit gefördert.

Dass auch die Naturwissenschaften in ihren Zielen, Methoden und ihrem Selbstverständnis abhängiger Teil der gesamten Kultur sind, in der sie betrieben werden, wissen inzwischen viele Naturwissenschaftler selbst. Steven Rose formulierte, was auch seinem Kollegen Markl bewusst ist, so: "Zu jeder Zeit hängen die Wissenschaft, die wir betreiben, die Fragen, die wir über die Welt stellen, die Hypothesen, die wir formen, und die Antworten, die uns zufrieden stellen, von einem kontinuierlichen Wechselspiel vieler Faktoren ab." Neben der "inneren Logik des Themas" gehören dazu der "gegenwärtige Stand der Technik", aber auch "die ökonomische und politische Logik, die eine Gesellschaft dazu veranlassen, bestimmte Arten von Forschung zu fördern und andere nicht, und, weniger auffällig, die kulturellen und sozialen Kräfte, die unsere Metaphern formen, unsere Analogien mit Einschränkungen belegen und uns die Fundamente für unsere Theorien und Hypothesen liefern."

Schon seit längerer Zeit hat sich denn auch Wissenschaftsgeschichte zu einem ungemein fruchtbaren Bereich der Kulturgeschichtsschreibung entwickelt. Gerade die Medizingeschichte, der literaturkritik.de in dieser Ausgabe eine eigene Sparte einräumt, hat sich mit ihren wandelnden, oft hochgradig normativen Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit als eminent wichtige Teildisziplin einer kulturhistorischen Anthropologie erwiesen. Seit der Aufklärung, in der der Wert der Gesundheit als Voraussetzung diesseitigen Glücks den Wert des jenseitigen Heils zu ersetzen begann, dringt medizinisch vermitteltes Wissen darüber, was krank macht oder gesund erhält, regulierend in alle Bereiche der Lebenspraxis ein und übernimmt die Position einer säkularisierten Heilslehre. Seither ist Gesundheit zum stärksten und zugleich vielfältig missbrauchten Argument in normativen Diskursen geworden. Die gegenwärtigen Debatten über die Gentechnologie liefern dafür erneut beste Belege. Ohne ihre therapeutischen Erfolgsversprechungen hätten die Apologeten humangenetischer Manipulationen in der biopolitischen Meinungsbildung keine Chance.

Die Grenzen zwischen Biologismus und Kulturalismus beginnen, wie gesagt, zu zerfließen. Das Gegenteil von "verdinglichtem Bewusstsein" heißt heute "Kontingenzbewusstsein". Der Begriff meint die Vorstellung, dass faktische Ereignisse und Sachverhalte nicht etwas Notwendiges, sondern eher etwas Zufälliges, geradezu Unwahrscheinliches sind. Es könnte alles auch ganz anders sein. In dieser Vorstellung zeigen sich heute Biologen und Kulturwissenschaftler durchaus verbunden.

Unterschiede bleiben allerdings bestehen. Jürgen Habermas hat in seiner Marburger Rede zur Gentechnologie am 28. Juni mit so vorsichtigen wie differenzierten Argumentationsgängen auf sie verwiesen. Im Blick auf die biomedizinischen Möglichkeiten sieht auch er, wie sich die Grenze zwischen natürlich Gewordenem und technisch Gemachtem, zwischen "der Natur, die wir sind, und der organischen Ausstattung, die wir uns geben", verwischen. An dem Unterschied zwischen kultureller und gentechnologischer Selbstbemächtigung der menschlichen Gattung hält er jedoch entschieden fest. Zwar sind in beiden Fällen einzelne Subjekte auch Produkte manipulativer Eingriffe von außen. Denn die soziokulturelle Prägung des Einzelnen erfolgt keineswegs zwanglos. Die symbolischen bzw. diskursiven Ordnungen einer Gesellschaft können längst nicht mehr wie in der Tradition idealistischer Philosophie als Reich menschlicher Freiheit gelten. Sie sind Territorien sozialer Macht. Habermas berief sich in Marburg zumindest beiläufig auf Foucaults "Mikrophysik" der Macht. Deren generalisierende Tendenz, in allen Diskursen und sozialen Praktiken den gleichen Willen zur Macht am Werk zu sehen, wies er jedoch erneut zurück, indem er (anders als der nicht ausdrücklich erwähnte Sloterdijk) zwischen gentechnologischen und sozialen "Anthropotechniken" (so Sloterdijks Begriff für bio- wie für kulturtechnische Programmierungen) deutlich unterschied. Manipulative Eingriffe in das Leben des Kindes durch Erziehung beispielsweise haben eine erheblich andere Qualität als Genmanipulationen, mit deren Hilfe Eltern versucht sein können, ein Kind nach ihren Wünschen zu erhalten. Während Genmanipulationen irreversibel seien, so ein zentrales Argument von Habermas, seien kulturell geprägte Sozialisationsschicksale sogar in pathologischen Fällen zumindest partiell revidierbar. Während im Prozess der Erziehung die Erwartungen der Eltern an ein heranwachsendes Du im Medium der Kommunikation herangetragen werden und das Kind die Möglichkeit hat, diesen Erwartungen nicht zu entsprechen, beziehen sich gentechnische Eingriffe auf das zukünftige Kind wie auf ein Objekt und treten dem späteren Subjekt als "stumme" Fakten entgegen. Ihnen kann es nicht widersprechen, es kann mit ihnen allenfalls hadern.

Habermas berief sich zwar nicht auf Sartre, doch beiläufig auf Kierkegaard. Indem er wiederholt darauf insistierte, dass das menschliche Subjekt die Chance haben müsse, "Autor seiner eigenen Lebensgeschichte" zu sein, rückte er in erstaunliche Nähe zum existentialistischen Humanismus. Dessen subjektphilosophischen Grundlagen hebt er allerdings durch seine Intersubjektivitätsphilosophie auf. Es ist die potentiell befreiende Kraft intersubjektiver Selbstreflexion im Medium kommunikativen Handelns, die Habermas zu beschwören nicht müde wird. In den Kulturwissenschaften ist diese Form und Funktion der Selbstreflexion institutionalisiert und professionalisiert worden. Ihre Forschungen zu den Mechanismen, Inhalten und historischen Wandlungen kultureller Konstruktionen von Wirklichkeit reflektieren die Prozesse kollektiver Selbstverständigung und Orientierung von Gesellschaften über ihre Normen und Werte, Wahrnehmungen und Sinngebungen im Umgang der Menschen mit anderen Menschen, mit der Natur und mit sich selbst. Dass sie dabei das, was vielen selbstverständlich, natürlich und notwendig erscheint, als kulturelles Konstrukt und als kontingent bewusst macht, löst bei manchen Angst aus. Es ist die Angst vor der Freiheit, die vor Erich Fromm schon Kant im Blick hatte, als er an den Mut appellierte, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen - in eben jenem Jahrhundert, in dem Vico das Fundament der heutigen Kulturwissenschaft legte.

In seiner Sammlung stilistisch brillanter und schon deshalb lesenswerter "Zeitdiagnosen", die der Soziologe Heinz Bude unter dem Titel "Die ironische Nation" vorlegte, handelt einer der Essays von der Kategorie der Kultur in den Sozialwissenschaften. Es ist da im Blick auf den "kulturellen Relativismus" von der "Panik" die Rede, die entstehen kann, "wenn die Ahnung entsteht, daß [...] alles auch anders möglich ist", dass "eine Kultur aus sogenannten historischen, und das heißt: letztlich kontingenten Gründen über die Regeln der Angemessenheit und Vernünftigkeit befindet." Andreas Reckwitz (vgl. die Rezension in dieser Ausgabe) hat dieses Kontingenzbewusstsein der Kulturwissenschaften seinerseits als kulturhistorisches Phänomen zu beschreiben versucht. Es sei auf Erosionen kultureller Selbstverständlichkeiten in gegenwärtigen, hochmodernen Gesellschaften des Westens zurückzuführen. Die Konjunktur der neueren Kulturwissenschaften hat in einer Zeit nach der "organisierten Moderne" eingesetzt, als die Produktion und Konsumption symbolischer Güter, von Stilen und Informationen, rasant an Bedeutung gewonnen haben, als die relative Eindeutigkeit ehemals klassen- und schichtenspezifischer Lebensweisen abgenommen hat, und zwar zugunsten einer verstärkten Pluralisierung und Enttraditionalisierung von Lebensformen und Milieus, als die Kategorien 'Geschlecht' und 'Ethnie' entnaturalisiert, die Kategorie 'Nation' im Zuge kultureller Globalisierungen problematisiert wurde, als die elektronischen Medien die Konkurrenz unterschiedlicher kognitiver und ästhetischer Deutungsangebote verschärft haben und dem Individuum in stärkerem Maße als zuvor abverlangt wurde, mit kulturellen Differenzerfahrungen und Mehrdeutigkeiten umzugehen. "Die Kulturtheorien und kulturwissenschaftlichen Forschungsansätze, die um die Abhängigkeit des Handelns, der Praktiken oder der Kommunikation von Sinnsystemen und Wissensordnungen zentriert sind, haben exakt in jenem Zeitraum an Einfluß gewonnen, in dem diese Sinnsysteme durch die Erfahrungen ihrer Kontingenzen und Differenzen in der sozialen Welt selbst auf verschiedensten Ebenen zunehmend problematisch und damit 'sichtbar' geworden sind." Die bereits "außerwissenschaftlich vorhandene Thematisierung von impliziten Wissensordnungen und deren Sinnmustern" sei durch die Kulturwissenschaften nur noch befördert worden.

Die neueren Kulturwissenschaften sind nach dieser Deutung also selbst ein Teil jener kulturellen Phänomene, die sie sich zu ihrem Gegenstand gemacht haben. Am Beispiel der sozial- und kulturwissenschaftlichen Familienforschung, die in den letzten beiden Jahrzehnten einen bemerkenswerten Aufschwung erlebte (ihr ist in dieser Ausgabe von literaturkritk.de ein eigenes Unterkapitel gewidmet), lässt sich das gut veranschaulichen. Auch hier reflektierte und beförderte die Forschung Perspektiven, die sich zur gleichen Zeit in der Praxis familialer Lebensformen entwickelten. Hinweise dazu enthält ein weiterer Essay in Heinz Budes "Zeitdiagnosen". Im "Vergleich zu den einfachen Schicksalskategorien aus der klassischen Familiensoziologie in den fünfziger und sechziger Jahren" mache sich, dem beschworenen Wandel zur "Pluralisierung familialer Lebensformen" entsprechend, in der soziologischen Forschung eine erstaunliche Metaphernvielfalt bei der Benennung des Gegenstandes bemerkbar: "Verhandlungsfamilien auf Zeit", "Werkstattfamilien vor Ort", "Sukzessivehen", "Fortsetzungsfamilien", "multiple" oder "parallele Elternschaft", "Hybridfamilien", "Antifamilien" und so fort. Vorstellungen von irgendeiner "Natürlichkeit" der Familienbande oder soziobiologische Theorien über genetisch festgelegtes Beziehungsverhalten erscheinen da allenfalls als kompensatorische Versuche, Halt und Orientierung zu finden, wo die kulturelle Praxis ein manchen beängstigendes Maß an Variabilität zeigt.

Aufmerksam gemacht durch die Wandlungen in der Gegenwart, hat man mittlerweile ähnliche Variabilitäten in der Vergangenheit entdeckt. So hat, wie Bude aus der jüngeren Forschung berichtet, "die strenge Regel der Verknüpfung von Heirat und Haushalt in vorindustrieller Zeit ganze Bevölkerungsgruppen vom Recht auf Ehe ausgeschlossen, weil sie nicht über den notwendigen Besitz für eine Haushaltsgründung verfügten." Die Geschichte der Knechte und Dienstmädchen war davon noch bis in das 20. Jahrhundert hinein geprägt. "Geht man also", so lautet das Resümee, "von den real existierenden Beziehungen und nicht von der institutionellen Kunstform aus, dann gehören die ungewöhnlichen, anormalen und unordentlichen Lebensformen zum normalen Erscheinungsbild der Familie. Und von daher erscheint die unser kritisches Bewußtsein prägende Periode der fünfziger und sechziger Jahre, wo nur wenige Außenseiter ledig und kinderlos blieben, als eine historisch einmalige Situation."

Wo bleibt da die Natur, was bringen uns angesichts solcher kulturellen Wandlungen und Differenzen alte biologistische Erklärungen menschlichen Verhaltens? Die Determinationskraft der "egoistischen Gene" auf soziales Verhalten dürfte in einer historischen Situation, in der es dem Menschen möglich erscheint, sie nach seinem eigenen Willen zu verändern, nach wie vor von vielen erheblich überschätzt werden.


Titelbild

Heinz Bude: Die ironische Nation. Soziologie als Zeitdiagnose.
Hamburger Edition, Hamburg 1999.
185 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3930908476

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Steven Rose: Darwins gefährliche Erben. Biologie jenseits der egoistischen Gene.
Verlag C.H.Beck, München 2000.
363 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3406459072

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