Besitzgier, Liebe, Bürgerlichkeit

Christine Angot erzählt von einer homosexuellen Liebe

Von Ingeborg GleichaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingeborg Gleichauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vielleicht täuscht der Titel die Leser ja, vielleicht hilft sein reißerischer Klang gar nicht dabei, von außen an das Buch heranzugehen, mit dem Gedanken, dass einen das, was Christine Angot erzählt, eigentlich gar nicht betrifft. Der Kitzel des Fremdartigen, Skandalösen? Mehr nicht?

Aber dann sieht alles doch ziemlich anders aus und das Raubtier, das dieses Buch ist, fällt den an, der sich darauf einlässt, der schließlich doch die Wahrheit will und die voyeuristischen Motive vergisst.

Angots Roman hat verschiedene Ebenen, er erzählt vom Trauma einer Kindheit und lässt den erfahrenen Inzest zu Kunst werden. Erlebnis und Konstruktion laufen parallel und verschränken sich in manchen Momenten. Beginnen wir mit der Geschichte oder dem, was man dafür halten könnte: Die Autorin erzählt von ihrer nur drei Monate dauernden homosexuellen Liebe zu einer Ärztin. Was letztlich die Krise beschleunigt, ist der Einbruch der Bürgerlichkeit und der heuchlerischen Lüge in die Beziehung. Ein Spiel reiner Macht entfaltet sich wie auch vor Jahren in der inzestuösen Beziehung des Vaters zu seiner vierzehnjährigen Tochter. Besitzgier, verzweifelte Versuche, der totalen Unterwerfung zu entkommen, Angst vor dem Wahnsinn, ein Hauch von Glück manchmal, aber verschwindend klein, dies ist der Reigen, den die Figuren Angots mit ihr selbst als Hauptperson tanzen.

Die zweite Ebene aber ist die der Kunst und hier hat Inzest eine andere, ganz eigene, von dem realen Geschehen nur durch den Faden der Sprache verbundene Bedeutung. "Ich kombiniere, alles kommuniziert miteinander, und genau das ist es, was ich mit meiner inzestuösen mentalen Struktur meine". Inzest als kunstvolle Konstruktion einer verrückten Wirklichkeit. Angot sagt auch, in welcher Art ihre Fähigkeit zur Kombination arbeitet: "Alles kann sich jederzeit zermalmen, hätte meine Devise lauten können." Und so findet nirgends in diesem Buch Begegnung statt, weil die Möglichkeit der Zerstörung oder das Immer-schon-zerstört-Haben jedes Wort, jede Geste fest im Griff hat. "Blockade" ist das Wort, das die Autorin selbst verwendet für den Zustand, aus dem heraus sie schreibt. Ein Roman als Protokoll der restlosen Blockade. Keiner berührt den anderen wirklich, es gibt keine Erotik der Gesten, der Blicke, der Sprache. Was herrscht, ist eine Geschichte der Hoffnungslosigkeit und der Zermalmung und die perfekte sprachliche Umsetzung in ein im wahrsten und besten Sinne furchtbares Kunstwerk.

1999 in Frankreich erschienen, hält "Inzest" die Kritiker in Hochspannung. Die 1959 geborene Christine Angot ist seit 1989 ein weibliches Enfant terrible der französischen Literatur. In all ihren Büchern schreibt sie über sich, ist sie selbst Mittelpunkt. In der radikalen Weise, in der sie dies tut, provoziert sie. Auch das wird in "Inzest" reflektiert. So ist es nicht nur ein Buch über sexuelle Gewalt, sondern über die Gewalt, die in der Gesellschaft herrscht, in den Meinungen, Gerüchten, Diskriminierungen, scheinheiligen Redereien. In seiner schonungslosen Offenlegung des Krieges, der sich zwischen den Menschen abspielt, mit den Mitteln der Sprache erinnert der Roman an die düsteren Traum-Kapitel von Ingeborg Bachmanns "Malina". Was fehlt, ist jede Form poetischer Utopie. Immer wird es wie jetzt sein für Christine Angot, der Krieg wird nicht enden und niemals "werden die Menschen rotgoldene Augen haben", wie es bei Bachmann heißt.

Titelbild

Christine Angot: Inzest. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Colette Demoncy.
Tropen Verlag, Köln 2001.
186 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3932170474
ISBN-13: 9783932170478

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