Ist die Erinnerung eine Katze aus Bamberg?

Das Deutsche Literaturarchiv zeigt Dichter-Memorabilia

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im "Timetunnel" taumelten zwei Wissenschaftler durch die Epochen und Erdzeitalter; kaum näherten sie sich dem rettenden Ausgangspunkt, verschlug sie ein Zeitstrudel wieder in eine ferne Ära. Benötigte die amerikanische TV-Serie aus den 70ern noch eine gigantische, ebenso geheimnisvolle wie tückische Technik, um Reisen durch die Jahrhunderte zu plausibilisieren. genügen Michael Davidis und Gunther Nickel ein paar alte Eisenhüte, Glasscherben, Gesteinsbrocken und Masken, um flugs aus der Gegenwart zu entrücken. Ach ja, und eine Katze gehört auch dazu. Sie schreitet - gravitätisch halb, halb beleidigt - durch die Vitrine. Unwillkürlich fragt man sich, woher sie kommt und wohin sie geht. Doch sie steht am Ende einer Ausstellung. Lassen wir ihr also noch ein wenig ihr Geheimnis.

Im Deutschen Literaturarchiv in Marbach asserviert man nicht nur papierne Reliquien der Dichter. Schon im 19. Jahrhundert sammelte man eifrig Besitztümer der Geistesheroen, die einen Abglanz ihres Genies widerspiegeln, auratische Spuren ihrer Existenz besitzen könnten. Der wunderbare Ausstellungskatalog klärt darüber auf, dass dieser Erinnerungskult seine Wurzeln in religiöser Praxis des selbstbewusster werdenden Bürgertums hat. Die Formen der Dichterverehrung bedienten sich im Geniezeitalter nicht nur der Worte, sondern auch der Rituale von Heiligenfeiern. Gleichzeitig ahmten Bürger Formen adliger Memorialkultur nach, wie zum Beispiel öffentliche Gedenksteine und Statuen. Und so entstand 1779 in Frankfurt an der Oder mit dem dreieckigen Obelisk für Ewald von Kleist das erste Dichterdenkmal Deutschlands.

Lange hielt sich dieser Künstlerkult, obwohl ihn mancher der Verehrten früh verspottete. Goethe belustigte der "handwerksburschenmäßige Stolz" von Besuchern am Großen Hirschgraben, die von ihm einstmals gebrauchte Gegenstände anstaunen, ja berühren wollten, und Fontane dichtete Spottverse auf den reliquienversessenen Positivismus, der noch den entlegensten Lebenszeugnissen nachspürte: "Hochgesprungen, laut gesungen! / Wenn verschimmelt auch und dumpf, / Sei's! wir haben ihn errungen / William Shakespeares wollnen Strumpf."

Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg geriet denn auch diese Sammeltätigkeit unter Generalverdacht. Trotzdem kamen mit jedem Dichternachlass nicht nur Manuskripte, sondern Schreibgeräte und -tische, Büsten, Bilder und Nippes, Haare, Zähne und Trophäen ins Deutsche Literaturarchiv. Obwohl quasi nur ein Nebenkollektion, erzählt die Menge der "Erinnerungsstücke", wie man sie im Marbacher Archiv nennt, ungeheuer viel über Literatur, über Formen des Gedenkens und über die schwer zu fassenden, leicht zu manipulierenden Erinnerungen selbst. Wie spannend, diese Objekte einmal nicht als dekoratives Element der gewohnten papierlastigen Ausstellung zu verwenden, sondern sie selbst ins Zentrum einer Schau zu stellen!

Mit nur 80 Exponaten bescheiden sich Davidis und Nickel. Jedes einzelne Stück soll Raum haben, zu wirken. Eine wohl unbeabsichtigte Folge ist allerdings, dass in den Räumen eine geradezu weihevolle Stille herrscht. Ein zweites Kuriosum fällt auf: man muss genauso viel lesen wie üblich, weil sich nur dadurch die Bedeutung einer Marmorlocke oder zweier Stahlhelme erschließt. Die Marmorlocke stammt von einer Schiller-Büste Danneckers, die er nach Jahren mit dem Meißel zu frisieren beschloss. Sängern, die ihm ein Geburtstagsständchen gehalten hatten, verehrte er dann später die abgeschlagenen steinernen Haare. Sollten diese Choristen Schillers oder Danneckers gedenken? Ein persönliches Andenken, ja fast ein Totem sind dagegen Ernst Jüngers Stahlhelme. Der deutsche gehörte ihm selbst und zeigt mit den Durchschusslöchern, wie knapp er dem Tod entronnen, den englischen nahm er einem getöteten Feind ab; einem "Offizier", wie er betont, um der Trophäe besonderen Wert zu verleihen. Und auch Jünger frisiert: sein Kriegs-Jagderlebnis wird nämlich immer heroischer - von der ersten Fassung im Tagebuch über diejenige in einem Brief bis zur Buchversion in den "Stahlgewittern".

Mörikes rotes Husarenjäckchen aus Kindertagen oder der berühmte Turmhahn der Cleversulzbacher Kirche sprechen da eine ganz andere Sprache. Beide fanden in den Versen des schwäbischen Dichters eine Heimat, wurden dort zu Symbolen für Zeitlichkeit, Vergänglichkeit, Gefährdung.

Eines steht schon nach wenigen Vitrinen fest: Niemand wird aus dieser Ausstellung gehen, ohne berührt zu sein; ob von Lessings Totenmaske oder Königin Luises "Urnenuhr", von Goethes Federmesser oder vom Koffer Casimir Bumillers mit dem Aufkleber "Weimar-Buchenwald". Dabei sprechen all die Liebesgaben, Verehrergeschenke, Souvenirs, mahnende Andenken, Trophäen, Denkmale, Reliquien und Talismane gleichzeitig Gefühl und Intellekt an. Schlagend beweisen sie, welche psychischen Energien sie zu konzentrieren und zu bewahren in der Lage sind, vor allem aber, dass alle Spielarten des Gedenkens Konstruktionen sind.

Was könnte besser dafür stehen als die Katze am Ende der Ausstellung? Einst gehörte die Skulptur Margret Boveri und befand sich für eine Zeit vielleicht nicht weit von Bamberg. Denn die große Journalistin verbrachte viele Jahre auf dem Sommersitz der Familie, dem Seehaus bei Höfen (auch wenn die Dorfbewohner zeitweise mit ihr auf Kriegsfuß standen). Als Margret Boveri starb, hinterließ sie die Holzkatze Uwe Johnson. Ob sie das beziehungsreiche Legat als Vermächtnis, Rache, Heimsuchung oder als Reverenz verstand?

Johnson war auf die renommierte Journalistin aus Franken aufmerksam geworden, weil sie sich 1965 in ihrem Buch "Wir lügen alle. Eine Hauptstadtzeitung unter Hitler" differenziert und kämpferisch mit ihrer Zeit als Journalistin im "Dritten Reich" auseinandergesetzt hatte. Mit ihr sprach er eine Zeitzeugin, die - höchst ungewöhnlich in diesen Jahren - zur harten Auseinandersetzung bereit war. Der Verfasser der "Jahrestage" besuchte sie immer wieder und rang mit ihr in langen, oft heftigen Streitgesprächen um die Frage, wie man unter den Nationalsozialisten hätte leben können, dürfen, sollen. Dass Früchte dieser Dispute in den ersten Bänden von Johnsons "Jahrestagen" zu finden waren, nahm Margret Boveri wahr. Dort stieß sie auf die Passage über die "Katze Erinnerung": "Unabhängig, unbestechlich, ungehorsam. Und doch ein wohltuender Geselle, wenn sie sich zeigt, selbst wenn sie sich unerreichbar hält." Boveri wird sofort die fast unheimlichen Übereinstimmungen - denn Johnson kannte die Figur nicht - zwischen der symbolisch-literarischen und ihrer hölzernen Katze bemerkt haben.

Noch heute beunruhigt Margret Boveris Präsent den Betrachter, weil diese Grinsekatze vier vampirartige Zähne besitzt, weil ihre pupillenlosen Augen bedrohlich schauen, weil ihr Schwanz wie eine rätselhafte Hieroglyphe geformt ist, weil man ihren Körpergestus nicht deuten kann, weil sie ein Geheimnis wahrt. Uwe Johnson bewegten schon ähnliche Empfindungen: "Ja, die Katze ist uns vermacht von Frau Boveri, deren reiselustige Tante sie wohl vor siebzig Jahren 'irgendwo in der Südsee' erstanden hat. Es ist ein hochmütiges Tier an jedem Zoll seines schwarzbraunen Hartholzes und steht vor dem weißen Paneel, als warte es auf etwas. Es wird seine Zeit brauchen, bis wir du zu ihr sagen."

Was der detailversessene Autor Johnson nicht wusste: aus der Südsee stammte die Katze sicher nicht. Ethnologen stimmten nur darin überein, dass es in diesem Gebiet Vergleichbares nicht gebe. Warum also sollte nicht ein fränkischer Holzschnitzer der Schöpfer dieser Katze sein? Wenn Sie sachdienliche Hinweise geben können, wenden Sie sich bitte an das Deutsche Literaturarchiv Marbach oder an jede andere Literaturdienststelle.

Titelbild

Michael Davidis / Gunther Nickel: Erinnerungsstücke. Von Lessing bis Uwe Johnson.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach 2001.
224 Seiten, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3933679559

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