Die Wanderschaft und das Exil

Anmerkungen zum Briefwechsel zwischen Paul Celan und Erich Einhorn

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Steht man vor den grünen Kästen des Celan-Nachlasses in Marbach, so ahnt man, dass sich hinter den dünnen Gedichtbänden des Autors ein ganzes Netz von Ungedrucktem verbirgt. Mehr als ein Drittel des Nachlasses nimmt die Korrespondenz Paul Celans ein. Auffallend ist der große Anteil nicht abgeschickter Briefe, die der Dichter ebenso gewissenhaft verwahrt hat wie sämtliche Fassungen seiner Gedichte. Außerhalb des alphabetischen Briefwechsels sind eigene "Standortkonvolute" angelegt, die besonders umfassend sind und den vorgegebenen Rahmen sprengen: Es handelt sich dabei um die drei großen Korrespondenzen mit Franz Wurm, Ingeborg Bachmann und mit Nelly Sachs, die viele Manuskripte und Bücher enthalten.

Dass Celan kein "reiner Ästhet" war, sondern dass seine Dichtung unmittelbar mit biographischen Erfahrungen und gesellschaftlichen Zurichtungen zusammenhängt, ist in der germanistischen Forschung oft an den Rand gedrängt worden. Celan musste immer wieder als Kronzeuge dafür herhalten, Literatur als höhere Sinngebung zu retten und von der Politik zu trennen. Dass die Gedichte Celans nichts mit Zeitlosigkeit zu tun haben, hat er selbst des öfteren betont. Seine Gedichte versuchen, wie er es in der Dankesrede zum Bremer Literaturpreis 1958 ausführt, "durch die Zeit hindurchzugreifen - durch sie hindurch, nicht über sie hinweg". Die Radikalisierung, die im Weg von Celans Gedichten zu verfolgen ist, ist eine Gratwanderung hinein in die Sprache, wo nichts mehr auf sich selbst verweist und doch einen geheimen Horizont eröffnet, in dem die Bezüglichkeiten wieder neu zusammentreten könnten - diese Radikalisierung ist zutiefst historisch, wie jüngst vor allem Jean Bollack unterstrichen hat. Zu entdecken ist in diesem Zusammenhang die bewusste Loslösung Celans von seinem traditionellen kulturellen Umfeld und die Reflexion darüber, welche historischen Voraussetzungen für eine ungebundene künstlerische Produktion gewährleistet sein müssen. Eine solche Interpretation darf sich in erster Linie auf die anarchisch-kritische Position Celans selbst stützen, der sich keiner Ordnung unterwirft und gegen die herrschenden Anschauungen eine eigene befreite Sprache ausbildet. Der biographische Ausgangspunkt war dabei die Ermordung seiner Eltern und ein lebenslanges Schuldgefühl, überlebt zu haben. Es ist von den poetischen und epistolarischen Texten nicht zu trennen. Einige der wichtigsten Personen, mit denen er in einen imaginären Dialog eintritt, sind Tote: an erster Stelle die Mutter, einige Male auch der Vater, der unmittelbar nach seiner Geburt gestorbene Sohn François, vor allem aber Dichter und Denker, denen er sich existentiell nahe fühlte: Ossip Mandelštam, Marina Zwetajewa, Franz Kafka, Walter Benjamin oder Friedrich Hölderlin. Zugleich rekurriert Celans Verkarstung der Wörter, das Sprödewerden der Bilder, die zunehmende Atonalität seiner musikalischen Formen vor allem darauf, dass er sich seines Judeseins immer stärker bewusst wird.

Man kann in dem Briefwechsel mit Nelly Sachs, der seit 1993 publiziert vorliegt, nachvollziehen, wie dieses Thema immer bedrängender, immer zentraler wird. Das Erscheinen dieses Briefwechsels ist deswegen ein bedeutender Einschnitt in der gesamten Celan-Philologie. Hier sind zum ersten Mal, in autorisierter Weise, Dokumente aus der Zeit einer immer gravierender werdenden persönlichen Krise zu lesen - genauer gesagt: nicht zu lesen, da die Leerstellen zwischen den Briefen mindestens genauso aussagekräftig sind wie die Briefe selbst. Der Austausch mit Nelly Sachs intensivierte sich für Celan in der Zeit, in der er sich den eifersüchtigen Vorwürfen von Claire Goll ausgesetzt sah, denen zufolge er deren verstorbenen Mann Ivan Goll plagiiert habe. Auf erschreckend häufige Weise finden sich in vielen Briefen Anspielungen auf die "Goll-Affäre" und die von der deutschen Presse dankbar aufgegriffene Plagiatsvorwurf gegen Celan. 1962, als die psychische Wunde Celans zum ersten Mal offen ausbrach, intensiviert sich auch sein Briefwechsel mit den Freunden und Bekannten aus der Heimat: er schreibt an Gustav Chomed in Czernowitz und an Petre Solomon in Bukarest, natürlich auch an Manès Sperber. Am 6. August stellt er in einer klaren Selbstdiagnose Solomon gegenüber fest: "Meine Nerven sind eben nur meine Nerven und sie haben versagt, aus sehr realen, sehr objektiven Gründen." Und am 5. September schreibt er an Solomon einen Brief, dessen antikapitalistischer Unterton mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur auf seine aktuelle Krise zurückzuführen ist: "Ich wollte, in einer Gesellschaft, in der jeder, der sich dem Räderwerk widersetzt, verdinglicht und veräußert wird, das Spiel der Duplizität durch Verharren im Natürlichen vereiteln; aber sie haben es ein weiteres Mal verstanden, mich 'im Innersten' zu treffen. Und auf den Glauben an die Solidarität der Dichtung."

Von ähnlich großer Bedeutung ist auch der Briefwechsel zwischen Celan und seinem gleichaltrigen Jugendfreund Erich Einhorn, der insgesamt 16 Briefe umfasst, die zwischen 1944 und 1967 geschrieben wurden. Die Tochter Einhorns, Marina Dmitrieva-Einhorn, hat die Briefe ihres Vaters aus Russland mitgebracht, ausführlich kommentiert und mit einem Nachwort versehen. Nach einer Vorabpublikation im Celan-Jahrbuch 7 (1997/98) erscheinen sie nun erstmals gesondert publiziert in der Friedenauer Presse in Berlin. Hauptgegenstand ist zweifelsohne die russische Literatur, die für Celan eine Art geistige Heimat war, gleichzeitig finden sich aber auch mehrfach Hinweise auf die Goll-Affäre und den prekären Status der jüdischen Identität. Am 27. November 1962 etwa bedankt sich Celan in einem Brief an Einhorn für dessen "Buch aus Tarussa" und berichtet recht allgemein über "diverse Sorgen, die mir meine Schriftstellerei - eine sehr deutsche und auch, um es nur so zu nennen, teutsche Angelegenheit - ins Haus bringt". Außerdem ist von "ein[em] neue[n] Buch" die Rede, "es sind wieder Gedichte, auch eines, das die [Tarusskije stranicy] ausgelöst haben, ist darunter - wahrscheinlich erscheints im kommenden Herbst." Bekanntlich ist Celans Gedicht "Und mit dem Buch aus Tarussa" aus dem Gedichtband "Die Niemandsrose" ein kyrillisches Motto vorangestellt, "Vse poety zidy" (alle Dichter sind Jidden), das Zwetajewas Gedicht "Poem ohne Ende" entlehnt ist. Es geht Celan explizit um das "Ewig-Fremd-Sein, die Wanderschaft und das Exil". Der Dichter ist "verschlagen" "ins Reich der Skythen", "in den Großbinnenreim/ jenseits/ der Stummvölker-Zone, in dich/ Sprachwaage/ Wortwaage, Heimat-/ waage Exil." Celan hat mehrfach deutlich genug gesagt, dass er aus einem slawischen Osten kam, aus einer totalen Exteriorität. Er hat als "Emigrant" in seiner Sprache gelebt, in einem deutschen Exil. Nicht so sehr in der Emigration, sondern vielmehr in seiner selbstbestimmten Ausgeschlossenheit. Daher hat für Celan das Exil seinen Ort nur in der Sprache. Derrida hat in "Schibboleth" die Gemeinschaft auf die Struktur der Sprache übertragen. Es gehe um Celans Manier, die Schrift in Teile zu zerschneiden, während doch die Schnitte bei Celan die Funktion haben, die partikulare Verneinung vor der Universalisierung zu schützen, die sie wieder in Frage stellt. Eine andere Metapher setzt sich an die Stelle des Exils: "Wenn alle Dichter Juden sind, dann sind sie, die Dichter, auch alle Beschnittene und Beschneidende."

Es ist nun charakteristisch für Celans Einlassung auf sein Judentum, dass sie sich nicht nur über gelehrte Lektüren, sondern über die persönliche und dichterische Begegnung, und zwar vor allem mit dem russisch-jüdischen Dichter Ossip Mandelštam, vollzieht. Der Ausgangspunkt für diese so unbedingte Zuneigung waren frappierende biographische Parallelen: Judentum, Verfolgung, Selbstmordversuch(e), Einsamkeiten, Plagiatsanschuldigungen, Verketzerung der Texte, Sympathien für einen "Sozialismus ethisch-religiöser Prägung". Entscheidend war aber, dass Celan bei Mandelštam, der unter einem vergleichbaren "Neigungswinkel seiner Existenz" schrieb, eine ihm nahestehende Auffassung des Poetischen fand, die auf 'Kreatürlichkeit' und 'Wahrheit' der dichterischen Sprache zielte. Die Verschmelzung des Schreibgestus von Celan mit demjenigen Mandelštams ging sehr weit. Der russische Osten, die Sowjetunion, war für Celan einerseits besetzt als Raum der Deportation und des Todes, aber auch vom Terror Stalins ins Werk gesetzt. Andererseits verband sich mit 'dem Osten', mit Russischem auch die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat und die Rest-Utopie eines menschenfreundlichen, freiheitlichen Sozialismus. Hinzu kommt, dass die russische Literatur in Celans Bibliothek, wie Christine Ivanovic ermittelt hat, ca. 500 Bände umfasst und damit den dritten Platz nach den deutschen und französischen Büchern einnimmt. Mit Lesezeichen, Anstreichungen und vor allem Datierungen versehen, zeugen diese Bücher von Celans besonderen Kenntnissen der russischen Literatur. Dies alles zusammengenommen, konnte Celan sich, wie es in diesen Jahren in mehreren Briefen geschah, "Pawel Lwowitsch Tselan/ Russkij poët in partibus nemetskich infidelium/ s'ist nur ein Jud" nennen. Es war wie eine Fügung, dass sich im April 1962 wieder die briefliche Verbindung zum Jugendfreund Einhorn knüpfen ließ, der nach seiner Entlassung aus der Armee zunächst als Dozent für Rumänisch in der Akademie für Außenhandel arbeitete und inzwischen als literarischer Übersetzer in Moskau lebte, jetzt Celans Gedichte lesen konnte und ihm einige russische Bücher schickte, die den Freund in seiner russischen Orientierung bestärkten. Celan hatte Einhorn 1954 in dem Gedicht "Schibboleth", das vor allem der Freiheitsutopie der Spanienkämpfer gedacht hatte, in vertrauter Form angesprochen; die Motive dieses alten Gedichts, die dort zitierte Losung "No pasarán", griff er 1962 im Gedicht "In eins" wieder auf und "führte" sie mit Erinnerungen an die französische wie die russische Revolution "eng". Zu einem Wiedersehen der Freunde sollte es freilich nicht kommen, so sehr beide es wünschten.

Was in den Briefen steht, verlangt nach Interpretation und kann nur aus der Situation heraus verstanden werden. Am 23. Juni 1962 schreibt Celan an Einhorn: "Sicherlich ersiehst Du aus den Dingen, die ich da zu Papier gebracht habe, wo ich mit meinem Leben und meinen Gedanken bin. (Ich habe nie eine Zeile geschrieben, die nicht mit meiner Existenz zu tun gehabt hätte - ich bin, Du siehst es, Realist, auf meine Weise)". Das in Klammern Gesetzte ist niederschmetternd. Es beschreibt für Einhorn, der im "real existierenden Sozialismus" lebte, der sich verirrt und sein Lager ausgewählt hatte, ein anderes, utopisches Russland. Mit dieser Allusion verband sich für Einhorn wohl nur noch Desillusionierung und Enttäuschung. Plausibel ist Marina Dmitrieva-Einhorns Vermutung, dass in dieser Differenz eine Antwort liegen könnte, warum es zu den extrem langen Pausen des Briefwechsels der beiden Jugendfreunde zwischen 1944 und 1962, 1963 und 1966 kam, und wieso es nach 1967 keine Fortsetzung gab. "Was sich hinter den knappen Zeilen versteckt, fast zur Chiffre wird, ist das, was die beiden Freunde zugleich verband und doch voneinander trennte: gemeinsam ist ihnen die Herkunft und alles, was an Verfolgung, Schmerz und Leid daran geknüpft war; gemeinsam ist [die] Erfahrung des Exils, doch sie waren in zwei verschiedenen Welten exiliert - der eine 'in diesem oft so unmenschlichen Paris', der andere eingesperrt in Moskau am Ende der 'Tauwetter-Periode'." Einhorn bewahrte alles, was mit Celans Namen verbunden war, sorgfältig auf, vor allem ein Typoskript der frühen Gedichte Paul Celans. Zudem hatte er schon vor dem ersten Brief Celans 1962 dessen Gedichtbände und die Blok-Übertragungen gelesen, kurzum alles, was irgendwie erreichbar war. Außerdem gelang es Einhorn, die erste Veröffentlichung von Celans Gedichten durchzusetzen: der Sammelband "Stroki vremeni" ("Zeilen der Zeit") erschien 1967 unter der Leitung des sowjetischen Germanisten Lev Ginzburg in Moskau.

Am 10. August 1962 schreibt Celan an Einhorn, dass er in "Engführung" "fragmentarisch" ein Wort von Demokrit zitiert habe: "Es gibt nichts als die Atome und den leeren Raum; alles andere ist Meinung." Der Satz hat nach Hiroshima sicherlich eine andere Bedeutung angenommen: die Atome verweisen auf die Bombe, auf die Leere, auf die materielle Verwüstung und die geistige Lähmung. Die zweite Satzhälfte betrifft, bezogen auf die "Fragmentierung", das vom Ereignis in Gang gebrachte Denken und Gedenken, die "Meinung", die ein Ich zu der seinen gemacht hat. "Ich brauche nicht erst hervorzuheben, daß das Gedicht um dieser Meinung - um der Menschen willen, also gegen alle Leere und Atomisierung geschrieben ist." "Engführung" verwirklicht wie vielleicht kein anderes Gedicht Celans seine neue Vorstellung einer nicht verfügenden, nicht mehr 'sprachmächtigen' Redeweise, die ein Integrieren des Unfasslichen in den eigenen Verstehenshorizont, und damit eine Enteignung des 'Anderen', ausschließt. Die beiden inhaltlichen Themen 'Auschwitz' und 'Hiroshima' werden dergestalt "enggeführt" mit dem poetologischen, nämlich der so schwierig zu beantwortenden Frage, in welcher Weise auf Widerrufe menschlicher Kultur wie Judenvernichtung und atomare Massenvernichtung künstlerisch geantwortet werden könne. Dem enstsprechend ist nicht von der Kernphysik die Rede, sondern von einer Ethik des Menschlichen. Die Desintegration kann in jedem Augenblick ins Bewusstsein der Menschen dringen; die Explosion desintegriert das Ereignis der Explosion, nicht anders als auch die Judenvernichtung verschleiert wird. Auch hier hat Celan dem Moskauer Freund, in seiner ausweglosen Situation, sein eigenes Russland vorgestellt. Solchermaßen personalisiert, erreicht es ihn als eine Verteidigung des Menschlichen aus dem Westen, aus einem "Tarussa": "ta Russie", ein Russland des Du, des Dichters.

Celans Gedichte, es ist oft genug bemerkt worden, scheinen sich ihre eigene Schutzzone zu schaffen, jedes einzelne schafft sich ein Schloss und seinen eigenen Schlüssel. Dahinter verbirgt sich ein Terrain, in das sich das Lebbare zurückgezogen hat, kaum noch auffindbar. Gleichzeitig erweckt gerade dieser Umstand Lust: Wie bei fast allen persönlichen Zeugnissen von Paul Celan kann sich der Leser auch der vorliegenden Briefzeilen Celans und Einhorns von einem voyeuristischen Interesse an Verstehenshilfen nicht gänzlich frei machen. Im Gegenteil: Mit einem geradezu obsessiven Eifer sucht man in, zwischen, unter und über den Zeilen nach einem Universalrezept des Verstehens vieler uns hermetisch begegnender Wörter und Sätze Celans. Doch zur Beruhigung sei gesagt: Obwohl Celan seinem Freund Einhorn nützliche Hinweise zukommen lässt, deutet er seine Gedichte an keiner Stelle, legt nirgendwo etwas aus. Als ein Triumph der Dekodierung wird sich der Briefwechsel sicherlich nicht entpuppen. Dennoch verspricht er einigen Zugewinn an Verständnis für Celans Werk, für Celans Lebenswelt. Und das ist nicht wenig, wenn man bedenkt, dass kaum ein anderer Dichter so diskret mit der eigenen Geschichte umgegangen ist wie Celan.

Titelbild

Paul Celan / Erich Einhorn: Einhorn: du weißt um die Steine.... Briefwechsel.
Friedenauer Presse, Berlin 2001.
32 Seiten, 9,20 EUR.
ISBN-10: 393210921X

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