Die Kunst des Rezensierens und die Verantwortung des Publizierens

Georg Simmels Frühschriften als Gedankenschmiede und Fundgrube für Spurensucher

Von Joachim LandkammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Landkammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gibt es dafür, dass man diese, auf 24 Bände angelegte und bisher zur Hälfte fertiggestellte Simmel-Gesamtausgabe um einen weiteren Band ergänzende Publikation erwirbt und gar noch liest, noch einen anderen Grund als den der "Vollständigkeit"? Wenn man auf diese nicht - etwa als Bibliothekar oder als Simmelologe - schon von vornherein verpflichtet ist, wird man sich der Frage nach dem "Sinn" dieses Bandes durchaus stellen müssen, handelt es sich doch bei den hier zusammengestellten "Frühwerken" (der Werk-Begriff weckt eigentlich schon zu hohe Erwartungen) um kleinere Pflicht- und Gelegenheitsarbeiten, die nur sehr sporadisch den Bezug zu den Themen ahnen lassen, die Simmel später bewegen und zu seinen bekannteren "Hauptwerken" inspirieren werden. Lässt sich vielleicht auch im Falle Georg Simmels von einer "Persönlichkeit" reden, "der es wie keiner zweiten gelungen ist, die vielfarbig schillernde Erfahrungswelt zu einem harmonischen Ganzen zu gestalten", was Simmel in einer hier veröffentlichten Rezension J. W. v. Goethe zugute hält und was seiner Meinung nach "die scheinbar kleinkrämerische Akribie, mit der jede unscheinbarste Äußerung von ihm aufgesucht [d.h. veröffentlicht] wird" rechtfertigt? (immerhin handelt es sich um Goethes Briefwechsel mit Carlyle). Der Herausgeber Klaus Christian Köhnke hat sich jedenfalls auf ähnliche Weise in seiner Habilitationsschrift von 1996 über den jungen Simmel auf die mittlerweile angeblich etablierte "Klassizität" des Berliner Philosophen und Soziologen berufen, um die lückenlose, auch das Frühwerk einschließende Publikationspraxis zu legitimieren.

Aber welche der hier auf knapp 450 Seiten abgedruckten Texte auch unabhängig vom philologischen Problem ihrer Ein- und Zuordnung zur Simmelschen Denkbiographie (noch) in sich selbst interessant sind, bleibt eine so einfach nicht zu beantwortende Frage. Die Dissertation von 1881 besteht aus dem ersten Teil eines 1879 verfassten und preisgekrönten Wettbewerbsbeitrags, der sich einer der im letzten Jahrhundert häufig von der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität Preisaufgaben zu Kant-Themen stellte: nach der "Darstellung und Beurteilung von Kants verschiedenen Ansichten über das Wesen der Materie" war gefragt und das "Wesen der Materie nach Kant´s Physischer Monadologie" (also nach der "vorkritischen", später von Kant selbst revidierten Auffassung) behandelte dann der als Dissertation veröffentlichte Auszug daraus, der jedenfalls in keinem der seither relevanten Forschungsbeiträge zu der Kantschen Früh-Schrift auch nur erwähnt wird. Das mag am beschränkten Bekanntheitsgrad der Dissertation gelegen haben (die jedoch immerhin eine öffentlich ausgezeichnete Preisschrift war), eher aber wahrscheinlich an der jugendlichen Leichtfertigkeit, mit der hier Kants Versuch der Neuerklärung von Raum und Materie aufgrund einer neuartigen Allianz von Metaphysik und Geometrie allzu forsch und oberflächlich abgekanzelt wird. Simmel scheint sich kaum auf die Hintergründe und Theoriekontexte der Kantschen Abhandlung einzulassen, sondern "widerlegt" durchgängig alle Aussagen mit zum Teil eher fragwürdigen Gegenargumenten bzw. durch den Ausgang von anderen Prämissen, die (der frühe) Kant gerade nicht teilt. Ob der Neudruck von Simmels Dissertation der Kant-Forschung neue Impulse geben wird, darf daher füglich bezweifelt werden, v. a. wenn man das historisch-kritische Reflexionsniveau heutiger Kant-Rezeption vor Augen hat (vgl. z.B. Konstantin Polloks Ausführungen zum Materie-Begriff in seinem gerade im Meiner-Verlag erscheinenden Kommentar zu Kants "Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft").

Klaus Christian Köhnke, der sich nicht nur durch seine Studien zum Neukantianismus, sondern auch durch die genannte Habilitationsschrift gerade als Herausgeber dieses Bandes besonders qualifiziert hat, versucht dort Simmels Kant-Kritik vor dem Hintergrund seiner damaligen (positivistischen?) Tendenz zur Auflösung alles Substantiellen in reine Funktionsbeziehungen zu sehen - ein Gesichtspunkt, der bei Simmel in der Tat kurz anklingt und schon 1976 von H. Böhringer beiläufig in Zusammenhang mit Simmels "spekulativen Atomismus" gebracht wurde, von dem sich Spuren auch in seiner soziologischen Theorie erhalten hätten. Die Berechtigung dieser eher losen inhaltlichen Verknüpfung mit dem Gesamtwerk mag einmal dahingestellt sein; jedenfalls sagt sie nichts über die argumentative Stichhaltigkeit von Simmels Kant-Exegese aus.

Für bemerkenswert und weiterführend mag man allenfalls das formale Interesse Simmels gerade an der Kantschen Materie-Problematik als einer theoretischen Durchgangsstation auf Kants Weg vom metaphysischen Realismus zum transzendentalen Idealismus halten, schätzt er doch in einer Anmerkung Kants unklares Schwanken zwischen widersprüchlichen Ansichten gleichzeitig auch als "das Zeichen des frei von jeder Dogmatik nach Wahrheit ringenden Geistes". Auf analoge Weise mag Simmel, laut Lukács "zweifellos die bedeutendste und interessanteste Übergangserscheinung in der ganzen modernen Philosophie", auch zu den Themen der beiden anderen hier abgedruckten Abhandlungen gekommen sein: die "Psychologischen und ethnologischen Studien über Musik" (Überbleibsel eines gescheiterten Dissertationsversuchs) widmen sich dem Problem des Übergangspunktes von Sprache und Musik (bzw. der Widerlegung der Darwinschen Behauptung von der Priorität der Musik über die Sprache durch die Auffassung von Musik als "gesteigerter Sprache"). Der längere knapp 80seitige Aufsatz über "Dantes Psychologie", Niederschlag von Simmels romanistischem Studienanteil, exemplifiziert Dantes Position in der "Übergangsepoche" zwischen Mittelalter und Neuzeit anhand seiner aus verschiedenen Prosa-Schriften und der Commedia rekonstruierten Seelenlehre. Beide Aufsätze sind aber nicht viel mehr als ausgedehnte Kompilationen (wohl ebenfalls ohne großen aktuellen immanenten und fachlichen Wert), die zwar viel investierten Fleiß erkennen lassen, aber kein fesselndes Lektüre-Erlebnis.

Was aber dann doch ein tiefergehendes Interesse erweckt und die oben geäußerte Skepsis über die innere "Notwendigkeit" dieses Bandes tendenziell gegen Null reduziert, ist der auf den ersten Blick den geringsten appeal ausstrahlende Teil, nämlich die "Rezensionen 1883-1901". Denn erst in einigen (beileibe nicht allen) dieser Buchbesprechungen erkennen wir ihn zumindest ansatzweise wieder, den Simmel der gedankenblitzenden tiefen Einsichten und der brillanten Formulierungen; nur hier wird auch der Zusammenhang mit den frühen Hauptschriften deutlich. Denn im Idealfalle handelt es sich hier nicht um "gewöhnliche" 08/15-Buchkritiken: Rezensionen will Simmel nämlich, wie er 1901 in einem Brief erklärt, nur noch in den Fällen schreiben, "wo ich Dinge, die ich so wie so aussprechen möchte, an eine solche Gelegenheit anknüpfe". Die jeweils zu besprechende Veröffentlichung ist also oft nur der Vorwand für einen Kurz-Essay echt Simmelscher Prägung, der nach einer ein sehr allgemein gefasstes Problem aufreißenden Eröffnung zwar vielleicht kurz einige ausgewählte Gedanken des Autors skizziert, daran aber ganz eigene, nicht selten gerade damit stark kontrastierende Weiterführungen und Ausweitungen anschließt. Und als solche, viel mehr denn als "Kritik", sind sie auch gedacht: verbietet doch der quasi-metaphyische Relativismus Simmels die Eindeutigkeit einer einzigen, alleinigen (immer ein-seitigen) "Wahrheit". Der Glaube an die Unüberwindlichkeit von Gegensätzen, von der Letzt- und Gleich-Gültigkeit von miteinander nicht aussöhnbaren konträren Thesen und Tendenzen, die Überwindung von hierarchischen Deduktionen durch die gleichberechtigte "Koordination" der Prinzipien: das ist Simmels Credo, das nicht nur hie und da in den nun wiederveröffentlichten Paralipomena (mehr oder weniger deutlich) durchscheint, sondern wie vor unseren Augen erst "erarbeitet" wird, als Resultat der Auseinandersetzung mit einer vorgegebenen veröffentlichten Meinung. Exemplarisch zeigt z. B. die Diskussion von Jastrows Begriff des "Sozialiberalismus", warum Simmel aufgrund seiner fundamental-relativistischen Einstellung nie ein Parteigänger der Sozialdemokratie sein konnte: politisch denkbar für ihn ist lediglich ein vorläufiger, temporärer "Als ob"-Sozialismus, dem in baldiger Zukunft vielleicht wieder durch den "Individualismus" gegengesteuert werden muss, der es also versteht (wie Simmel mit einer hübschen Formulierung schreibt), "die Gegenwart auszunutzen, ohne die Zukunft zu präjudizieren".

Ähnliches gilt auch für den Text, mit dem Simmel die "Allgemeine Ethik" seines Lehrers Heymann Steinthal sehr kritisch bespricht; deutlich erkennbar schälen sich aus seiner Diskussion die Problemkreise der sechs Jahre später erscheinenden zweibändigen "Einleitung in die Moralwissenschaft" heraus (die autonome Kategorie des "Sollens", die Kritik an der Idee des Sozialismus und an einem naiven ethischen Idealismus, das Problem des Konflikts der Pflichten). Klar erkennbar ist auch, neben aller Einzelkritik, der fast charakterologisch zu nennende Grund der Ablehnung dieser Art von Ethik: hier wie auch bei der Besprechung des "Systems der Ethik" von Paulsen kann Simmel mit der "milde[n], gemüthvolle[n] Stimmung" des Buches und mit der es grundierenden optimistisch-harmonistischen Grundhaltung wenig anfangen, die die Probleme, anstatt sie analytisch zu erfassen, allzu simpel wegerklärt (z. B. durch das "Zauberwort ,allmählig'"- soviel zur "evolutionären Erkenntnistheorie").

Es sei nur noch kurz auf einige andere auch heute noch besonders lesenswerten Rezensionen hingewiesen; etwa die von Julius Langbehns "Rembrandt-Deutschen": Simmels nüchterne Kritik an der "gewagtesten Analogienspielerei" und "Geistreichelei" des berühmt-berüchtigten, von heute aus "präfaschistoid" zu nennenden Werks wirft ein vielsagendes Licht auf die gleichlautenden Vorwürfe, denen er sich später selbst von seinen "linken" Schülern Bloch, Lukács und Adorno ausgesetzt sah. Weiter die ausführliche und zustimmende Besprechung von R. Euckens Buch über die "Lebensanschauungen der großen Denker", die im Schlussteil jedoch zu einer entschiedenen Verteidigung der von Eucken verdammten (pseudo-)darwinistischen Entwicklungslehre und des modernen Materialismus ansetzt. Interessant auch die von der andeutenden Vorahnung bis zum wörtlichen Zitat reichende "Intertextualität", die die Besprechungen der Bücher von Hippel, Kidd, Le Bon, Stammler, Schmoller und anderen mit Simmels soziologischen Werken verbindet (in dem Aufsatz über Grünbergs "Bauernbefreiung" erkennt man z. B. in nuce die Grundgedanken der "Philosophie des Geldes"). Nicht vergessen werden dürfen auch die Konturen von Simmels lebenslanger Auseinandersetzung mit Nietzsche, die hier bereits aufscheinen in der teilweise sehr herben Kritik an Elisabeth Förster-Nietzsches erstem Band ihrer Biographie und in der nur sehr beschränkt zustimmenden Besprechung von Tönnies' "Nietzsche-Kultus" von 1897, die den gut-sozialdemokratischen Moralismus des entrüsteten Soziologen-Kollegen in ihre Schranken weist.

Der Herausgeber hat sich schon dadurch um die Simmelforschung (und nicht nur um sie) verdient gemacht, dass er viele der hier veröffentlichten, weit verstreut publizierten Arbeiten aufgestöbert hat. Seine Edition (mitsamt editorischem Bericht, Drucknachweis, Bibliographie, Variantenverzeichnis, Namensregister) ist nach bisherigem "Simmel-GA-Standard" tadellos, auch wenn einige fragwürdige Entscheidungen und Detailmängel durchaus anzumerken wären: so ist nicht recht einsehbar, warum die Schreibweise in einigen Fällen modernisiert wird ("gibt" für "giebt"), in anderen nicht (so wird z. B. jedes alte "th" thatsächlich als bewahrenswerth beurtheilt). Die Verweise im editorischen Bericht lassen ferner doch noch einige kaum verständliche Lücken erkennen, auch wenn Köhnke sicher eine immense Energie in die Ortung der fast immer versteckten oder unvollständigen Zitate investiert haben muss (das gilt v. a.für die von entferntestem ethnologischem Material strotzende Abhandlung über die Musik). Aber warum wird z. B. das verdeckte wörtliche duBois-Reymond-Zitat in der Dissertation nicht nachgewiesen, obwohl schon Böhringer den entscheidenden Hinweis gegeben hatte? Auf Seite 303 bezieht sich Simmel eindeutig auf die 1883 erschienene Schrift "Les maladies de la volonté" des französischen Psychologen Théodule Ribot, auf Seite 345 ebenso eindeutig auf Lou Salomés eben (1894) erschienenes Buch "Nietzsche in seinen Werken" (https://literaturkritik.de/txt/2000-09/2000-09-0071.html). Das englische Zitat auf Seite 358 bzw. 439 hätte sich sicherlich in James Bryce' "American Commonwealth" von 1888 nachweisen lassen, und mit dem "bundle of conceptions" auf Seite 196 ist wohl Humes "bundle or collection of perceptions" aus seinem "Treatise of Human Nature" gemeint usw.

Von diesen kleinen, vielleicht nur dem beckmessernden Rezensenten anzulastenden Misslichkeiten abgesehen, handelt es sich also um einen durchaus auch über die simmelologische Esoterik hinaus empfehlenswerten Band, der sich eigentlich schon allein wegen der folgenden herrlichen Mahnung lohnt, die Simmel an einen knappen Verriss eines heute zu Recht völlig unbekannten Werks anschließt und die der Rezensent sich nicht verkneifen kann, in extenso zu zitieren: "Ich kann bei dieser Gelegenheit den Wunsch nicht unterdrücken: es möchte doch der philosophische Markt etwas mehr von Büchern verschont bleiben, die nur persönliche Bedeutung, für den Autor, seine Freunde oder seine Examinatoren, besitzen. Jahr für Jahr steigert sich die Flut von braven Büchern, gegen die sich gar nichts einwenden läßt - als daß sie überflüssig sind. Gewiß wäre es thöricht, die literarische Produktion nur auf das Bedeutende und wahrhaft Schöpferische einschränken zu wollen. Allein das Quantum der Bücher, die nicht einmal Mut und Kraft des Irrens haben, die nur bekannten Inhalt in bekannte Formen gießen, nimmt so zu, daß die Kauf- und Lesekraft des Publikums unzweckmäßig erschöpft wird. Das Bewußtsein darüber, daß die Veröffentlichung eines Buches eine verantwortliche That ist und daß das grenzenlose Erzeugen von Büchern, die gar keine positiven Mängel haben, eine Belastung des geistigen Marktes bedeuten und die Diskreditierung der philosophischen Produktion und manchen weitern sekundären Schaden zur Folge haben kann - dieses Bewußtsein scheint von der verführenden Sehnsucht, sich gedruckt zu sehen, völlig erstickt zu sein".

Was Simmel wohl erst heute, z. B. zu den "Europäischen Hochschulschriften" gesagt hätte?

Titelbild

Georg Simmel: Gesamtausgabe 1. Das Wesen der Materie nach Kant's Physischer Monadologie, Abhandlungen 1882-1884, Rezensionen 1883-1901.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
460 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3518579517

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