Eine widersprüchliche Moderne

Lyrik und Prosa aus Südkorea im 106. "drehpunkt"

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch vor wenigen Jahren lagen fast keine Übersetzungen südkoreanischer Literatur in Deutschland vor. Seit kurzem hat sich diese sich diese Situation vor allem durch Neuerscheinungen im Pendragon Verlag und der Edition Peperkorn zwar deutlich gebessert, immer noch aber müssen diese Bemühungen darauf zielen, exemplarisch die wichtigsten Werke einzelner Autoren vorzustellen. Dem deutschen Leser eröffnet sich auf diese Weise ein Blick auf die stilistische und inhaltliche Vielfalt des Schreibens in Südkorea. Bisher aber hat er kaum Möglichkeiten, die Entwicklung eines Autors nachzuvollziehen.

Wenn die Schweizer Literaturzeitschrift "drehpunkt" in ihrer nun 106. Ausgabe überblicksartig koreanische Lyrik und Prosa von acht Autoren und Autorinnen vorstellt, entspricht es diesem Kenntnisstand und ist verdienstvoll. Die Texte literarisch zu werten, fällt allerdings nicht leicht: Die vier Prosaübersetzungen bieten ausschließlich Romankapitel oder Ausschnitte aus längeren Erzählungen. Vielversprechend wirkt hier vor allem das Eingangskapitel aus dem Roman "Stachelrochen" von Kim Jooyoung. Ein Ich-Erzähler, dessen Mutter und eine jugendliche Bettlerin sind auf dem engen Raum einer Wohnhütte in den elenden 50er Jahren nach dem Koreakrieg aufeinander verwiesen. Die präzise Sprache kommt unambitioniert daher und wirkt gerade deshalb. Hier bahnt sich ein klaustrophobisches Drama an, das inzwischen auch vollständig übersetzt vorliegt, eine Rezension dazu folgt. Voll eindringlicher Bilder, die einzeln gerade nicht anschaulich wirken, doch zusammen überzeugend Stimmung herstellen, evoziert Seo Ha-Jin in ihrer Erzählung "Pagodendorf" einen ländlichen Raum, der schon abstirbt, indessen noch dem Städtischen Widerstand entgegenzusetzen vermag. Weitaus einfacher in ihrer Anlage, umkreist Hyun Kil-Uns Erzählung "Heimkehr", in der ein Sohn mit seinem Vater hadert, der aus politischen Gründen aus dem Land fliehen und seine Familie allein lassen musste. Kim Won Woo mag in seiner Erzählung "Land der Zwerge" das Geschwätz der karriereorientierten städtischen Mittelschichten entlarven. Doch ist der mögliche gesellschaftskritische Impuls wohl sprachgebunden, und in der deutschen Fassung muss deshalb die Kritik des Geredes wie das Gerede selbst wirken.

Schwieriger noch als Prosa ist Lyrik zu übersetzen, zumal in eine Sprache, die mit dem Original grammatisch wenig und klanglich nichts gemein hat. Als Möglichkeit bleibt nur eine Nachdichtung, die wenigstens Stimmung und motivische Spannungsverhältnisse wiederherstellt. Angesichts solcher Schwierigkeit wirken einige der Übertragungen erstaunlich gut gelungen. Das gilt besonders für die von Lee Seung-Jin und Birgit Mersmann übertragenen Gedichte Song Su-Kwons, in denen nur scheinbar eine einfache, ländlich-naturhafte Bildwelt entwickelt ist, die sich jedoch bei näherem Hinsehen als komplexe artifizielle Gebilde entpuppen.

Den städtischen Gegenpol bildet die Lyrik Hwang Chi-Woos. Hwang gestaltet Entfremdung in einer schnell industrialisierten Gesellschaft, indem er vorsichtig und stets zielorientiert Verfahrensweisen der westlichen Moderne aufgreift, die sich bei ihm nie verselbständigen. Die politisch eindeutigeren Gedichte Kim Kwang-Kyus, die um Liebe und Mutterschaft kreisenden Texte Ra Hedoks fallen verglichen damit ab. Rhythmus und Versgliederung haben keine erkennbare Funktion. Die motivische Verschränkung zielt jedenfalls bei Kim zumeist auf eine allzu eindeutige Pointe, rettet freilich bei Ra den Kunstcharakter der Gedichte. Unklar bleibt hier, was an Mängeln den unvermeidbaren Verlusten durch eine Übersetzung geschuldet ist, und inwieweit sich bestimmte Schreibweisen einer adäquaten Wiedergabe im Deutschen verschließen. Immerhin gab und selbst gibt es auch in Deutschland genug beliebtes Lyrikgewerbe, dessen Vertreter Probleme des Verses für vernachlässigenswert halten.

Fragt man sich, wie repräsentativ die vorgestellten Texte sind und ob sich aus ihnen bei aller Verschiedenheit übergreifende Merkmale der südkoreanischen Literatur ablesen lassen, so ist man zunächst auf die Einleitung Seong Minyops verwiesen. Hier wird schon in den ersten Sätzen klar, dass - legitime - Wertsetzungen die Auswahl eingeschränkt haben: Einer "Reihe von jungen Autoren der 90er Jahre", deren Texte durch "pessimistische Schwärmerei und Verzweiflungsgestik, Todessehnsucht und Sprachdestruktion" gekennzeichnet seien, wird zwar eine "wichtige soziologische und kulturelle Bedeutung" zugebilligt. Doch stellt Seong ihnen die "Schriftstellergenerationen nach 1960" entgegen, die "in ihrer Gesamtheit die koreanische Literaturszene bilden" und offensichtlich konstruktiver eingestellt sind: Ihnen nämlich gehe es um "die Rückgewinnung der koreanischen Identität, die Überwindung der traumatischen Vergangenheit sowie der nationalen Teilung und die Mitarbeit am Demokratisierungsprozess".

Den Leser erwartet also Literatur etablierter Autoren, die kaum als Publikumsschreck auftreten. Mit Ausnahme der beiden Autorinnen - der 1960 geborenen Seo Ha-Jin und Ra Hedok (Jahrgang 1966) - sind, was den beigefügten biographischen Notizen zu entnehmen ist - alle Beiträger zwischen 1939 und 1952 zur Welt gekommen und zumeist durch Professuren oder Tätigkeiten in Kulturinstitutionen abgesichert. Deutlich unterschieden sind allerdings ihre literarischen Verfahrensweisen und wohl auch ihre politischen Optionen: Zwischen Kim Kwang-Kyu, der Massaker an kommunistischen Partisanen und wirklichen oder angeblichen Sympathisanten aus der Zivilbevölkerung ins Gedächtnis zurückzurufen versucht, und Hyun Kil-Un, der den negativen Blick seines jugendlichen Protagonisten auf seinen vor eben diesen Massakern flüchtenden linken Vater nirgends relativiert, scheint Vermittlung nur schwer denkbar. Ob es gerade bei diesen schon älteren Autoren weniger um nationale Aussöhnung als um geschichtspolitischen Kampf geht, oder Hyun in dem schon 1984 unter Militärherrschaft publizierten Text Rücksicht nehmen musste, um über vergangene Ereignisse überhaupt schreiben zu können, ist von hier schwer zu entscheiden.

Eine "Rückgewinnung der koreanischen Identität" scheint jedenfalls kaum in Sicht. Südkorea heute ist weniger das harmonische "Land der Morgenstille", als das es auf dem Titelblatt der Zeitschrift skizziert wird, als eine erst durch Kolonialisierung und Krieg, dann durch entschlossene und erfolgreiche Industrialisierung von ihren Traditionen abgeschnittene Gesellschaft. Die hier vorgestellte Literatur entspricht dem zum Teil, indem sie gleich das heute dominierende großstädtische Leben zum Thema macht. Wo andererseits ländliches Dasein in den Vordergrund tritt, erscheint es bedroht: In Seo Ha-Jins "Pagodendorf" leben nur noch alte Menschen und wurde schon seit vielen Jahren kein Kind mehr geboren. Zuweilen aber erscheint Natur als Zitat: Bewusst eingesetzt von Kim Kwang-Kyu, um den Konsumismus seiner schnell reich gewordenen Landsleute zu kritisieren; als Bildlieferantin für die Darstellung innerer Konflikte eines letztlich doch von der Moderne geprägten Individuums bei Ra Hedok; und selbst in der von jeder Ideologie weit entfernten Leichtigkeit der Gedichte Song Su-Kwons, der lange auf einer kleinen Insel als Lehrer lebte, vielleicht Volksliedelemente aufgreift und heute doch auf den großstädtischen Literaturbetrieb verwiesen bleibt.

In der westlichen Vorstellung existiert der Asiat häufig als Kollektivwesen, stets bereit, sich einer Autorität von Konfuzius bis zur KP zu unterwerfen, jedenfalls ohne ausgeprägte Individualität. Vorliegende Sammlung ist geeignet, dem Klischee den verdienten Garaus zu bereiten. Radikal vereinzelt sind die lyrischen Ichs in ihren Betrachtungen, gleichgültig, ob Ra Hedok sich einer Gebirgswanderung zuwendet oder Hwang Chi-Woo die ordentlich auf dem Balkon eines Appartmentblocks abgestellten Schuhe bedichtet, deren Besitzerin sich in den Tod gestürzt hat. In der Prosa erscheint eine gelungene Kommunikation in der Familie kaum möglich - Kim Jooyoungs Ich-Erzähler fühlt sich seiner Mutter dann nahe, wenn diese ihn schlägt. Im Kollegenkreis, bei Kim Won Woo, werden Sprachhülsen platziert, und die Verständigung unter Frauen bei Seo Ha-Jin trägt, täuscht nicht der Auszug aus der längeren Erzählung, nur zeitweilig.

Dass Identität misslingt, nutzt dem westlichen Leser. Anstatt eines allenfalls kurzfristig reizvollen Exotischen findet er ein reiches Spektrum literarischer Zeugnisse einer widersprüchlichen Moderne vor: Die südkoreanische Literatur lohnt nähere Bekanntschaft.

Titelbild

Rudolf Bussmann / Martin Zingg (Hg.): drehpunkt. Die Schweizer Literaturzeitschrift. Im Land der Morgenstille. Lyrik und Prosa aus Südkorea.
Lenos Verlag, Basel 2000.
128 Seiten, 9,20 EUR.
ISBN-10: 3857872993

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