Wörter als Schutzschild
Ulla Hahns vorzüglicher Roman "Das verborgene Wort"
Von Peter Mohr
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Nomina ante res". Dieser programmatische Satz aus Thomas Hürlimanns heftig diskutiertem Roman "Fräulein Stark" ließe sich auch als Leitmotiv für Ulla Hahns Epos "Das verborgene Wort" verwenden. Die Sprache dient der Protagonistin Hildegard als Schutzschild, als Zufluchtstätte und gleichzeitig als Ausweg. Sie wächst in der Adenauer-Ära in einem kleinen Dorf zwischen Düsseldorf und Köln auf; ihr Vater ist ungelernter Fabrikarbeiter, ihre Mutter Putzfrau, die Großmutter eine schlichte Katholikin, nur der Großvater fällt etwas aus dem familiären Rahmen. Er sammelt mit Hildegard und deren jüngerem Bruder sogenannte Buchsteine - Steine, die angeblich Geschichten erzählen. Die kleine Hildegard erliegt dieser Faszination, die Wörter setzen ihre Fantasie in Gang und avancieren zu einer Triebfeder gegen das einengende Elternhaus.
"Waat bes dä Papp no Huus kütt," (Warte, bis der Vater Nachhause kommt) droht die unterwürfige Mutter immer wieder ihrer Tochter, die durch die Ausflüge in die Wörterwelt ihrer "Bööscher" immer aufmüpfiger wird. Der Vater schlägt und schikaniert die Familie. Je älter Hildegard wird, um so mehr fühlt sich der Vater seiner in der Schule erfolgreichen Tochter unterlegen und um so härter fallen seine Bestrafungen aus - bis er Hildegard eines Tages mit dem Gesicht in die kochend heiße Suppe taucht.
Die Sympathiezuordnungen erfolgen in diesem Roman sehr schnell: Hildegard erlangt des Lesers Mitleid im Handumdrehen, vom Verhalten der Eltern möchte man sich mit Grausen abwenden, nicht anders ergeht es mit vielen Dorfbewohnern. Aus Hildegards näherem Umkreis kann lediglich der fantasievolle Großvater noch Pluspunkte sammeln. "Erst vor dem Hintergrund des Erfundenen konnte ich aussprechen, was mir damals widerfahren ist", erklärte Ulla Hahn jüngst in einem Interview. Es sind ohne Zweifel reichlich Details aus
der Vita der Autorin in diesen Roman eingeflossen, aber Ulla Hahn hat es gottlob vermieden, lediglich eine 1:1-Darstellung der erinnerten Realität vorzulegen. Die promovierte Germanistin Ulla Hahn, die nach Zwischenstationen an diversen Universitäten und als Literaturredakteurin von Radio Bremen Anfang 1981 mit dem Gedichtband "Herz über Kopf" auf sich aufmerksam machte und seitdem als eine der wichtigsten deutschsprachigen Lyrikerinnen gilt, hat einen beeindruckenden Beweis dafür geliefert, dass sich Lyrik und Epik nicht ausschließen, wie es einst Gottfried Benn behauptet hatte.
Der fiktive Handlungsort Dondorf hat nur wenige Gemeinsamkeiten mit der rheinischen Kleinstadt Monheim, in der Ulla Hahn aufgewachsen ist. Aber Dondorf verkörpert den rheinischen Provinzialismus der Nachkriegszeit, eine muffige Atmosphäre aus Katholizismus und Proletariermilieu, Wohlstandsstreben, Neid und Nachbarschaftstratsch. Hildegard wünscht sich nichts sehnlicher als aus dieser anscheinend hermetischen Welt auszubrechen, doch zunächst besteht wenig Hoffnung. Die Eltern verweigern ihr den Besuch des Gymnasiums und zwingen sie zu einer Ausbildung als Auslandskorrespondentin. Aus Hildegard wird später Hilla- mit "Heeldejaard" und überhaupt mit dem rheinischen Dialekt bricht sie peu à peu -, eine junge Frau, die Probleme mit dem Alkohol hat. Gerade rechtzeitig taucht ein ehemaliger Lehrer auf, der sie dazu animiert, das Abitur nachzuholen.
Um ehrlich zu sein: Nach dem ziemlich verunglückten Roman "Ein Mann im Haus" (1991) hätte wohl kaum jemand Ulla Hahn einen solch breit angelegten Entwicklungsroman zugetraut. Um so größer ist nun die Überraschung, denn durch präzise Detailbeschreibungen und subtil charakterisierte Figuren sowie den wohlplatzierten rheinischen Dialekt liest sich das "Das verborgene Wort" wie ein kleinbürgerliches Panorama der Adenauer-Ära. Man fühlt sich - bei aller Vorsicht vor großen Vergleichen - ein klein wenig an Heinrich Bölls "Ansichten eines Clowns" erinnert.
Wie der "Clown" Hans Schnier will auch Hildegard Palm aus der durch die Familie vorgezeichneten Lebensbahn ausbrechen. Bölls Protagonist Schnier will sich nicht mit seiner großbürgerlichen Familie arrangieren, und Hildegard will kein "Kenk von em Prolete" (Proletenkind) mehr sein, sucht die Einsamkeit, um sich in ihre Bücher zu vertiefen und legt sich selbst ein Buch mit "schönen Worten" an - gespickt mit Zitaten von Schiller, Goethe, Kleist oder Fontane. Die Literatur als Weg zur Selbstfindung, zum Aufbruch in eine andere Welt. Diesen selbst beschrittenen Weg lässt Ulla Hahn auch ihre Protagonistin Hildegard Palm gehen. Eine literarische Fortschreibung dieses Lebenswegs, so hat Ulla Hahn kürzlich bei der Buchpräsentation verlauten lassen, sei nicht ausgeschlossen. Man ist neugierig darauf, zu erfahren, ob Hilla - wie ihre Schöpferin - auch die Erfolgskurve kriegt, mit Preisen ausgezeichnet wird und einen prominenten Politiker heiratet.
Dazu fehlt momentan wohl noch die zeitliche Distanz, denn Ulla Hahn versicherte, dass es ihr erst in den letzten Jahren möglich war, sich diesem Thema zu widmen. Vorher, mutmaßt sie, wären zu viele "Ressentiments gegen die Dorfenge" eingeflossen. Eine Frage drängt sich dem Leser allerdings noch auf: Warum heißt die Hauptfigur des Romans Hildegard Palm? Ist es Zufall oder eine Hommage an die Lyrikerkollegin Hilde Domin, deren bürgerlicher Name eben Hildegard Palm ist? "Du gehst in ein Buch und bist in einer anderen Welt", gerät Ulla Hahns Protagonistin über die Literatur ins Schwärmen. Eben jenes Gefühl stellt sich auch nach der Lektüre dieses Romans ein: Man sieht mit einem scharfen Blick in eine andere Welt, in eine Epoche, die längst vergangen, aber deren Überbleibsel in den Köpfen vieler Zeitgenossen noch präsent ist.
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