Sammelrezension

Ein deutsches Trauma

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Selten hat ein Fernsehspiel die Deutschen so bewegt wie Heinrich Breloers Fernsehdokumentation »Todesspiel« über den deutschen Herbst 1977, als die Rote Armee Fraktion den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer verschleppte und nach dem Ende des Geiseldramas in der entführten Lufthansamaschine ›Landshut‹ erschoß, als sich in der Justizvollzugsanstalt Stammheim die Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe das Leben nahmen.

Der Terror hat sich ins kollektive Bildgedächtnis der Bundesrepublik eingebrannt, und es kann nicht überraschen, daß sich die Literatur schon früh mit ihm beschäftigt hat. Einer der ersten Erzähltexte war Heinrich Bölls Parabel »Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entsteht und wohin sie führen kann«. Bölls Erzählung ist bereits 1974 erschienen. In diesem Jahr läßt auch Eva Demski ihren Roman »Scheintod« (1984) spielen, ein früher Versuch, den pseudorevolutionären Mythenzauber des Terrorismus zu durchbrechen. Einer der ersten Theatertexte, die ohne die Atmosphäre des ›Deutschen Herbstes‹ nicht zu denken wären, war Gert Loschütz´ 1980 uraufgeführte Groteske »Chicago spielen«. Im Jahr darauf ließ Friedrich Christian Delius seinen Roman »Ein Held der inneren Sicherheit« vor dem Hintergrund der Ereignisse von 1977 spielen, doch erst mit seinem Roman »Mogadischu Fensterplatz« (1987) wählte er eine Perspektive aus dem Zentrum des Geschehens: Es ist die 30jährige Biologin Andrea Boländer, die vom Martyrium an Bord der ›Landshut‹ erzählt.

Fensterplatz - ein Stichwort, um die Frage nach der Genauigkeit der literarischen Texte im Umgang mit den Fakten aufzuwerfen. Denn an den Fenstern der Lufthansamaschine plazierten die Entführer ausschließlich männliche Passagiere, um gegen plötzliche Übergriffe gefeit zu sein. Heute, zwanzig Jahre später, lassen sich Fragen nach der Intention der Autoren, ihrer politischen Haltung und der Faktentreue ihrer Texte gelassener stellen und objektiver beantworten. Das Trauma jenes Herbstes hat atmosphärisch dicht Rainald Goetz in seinem Roman »Kontrolliert« (1988) eingefangen. Goetz operiert mit der Fiktion, sein Ich-Erzähler arbeite in einer Pariser Dachkammer an seiner Doktorarbeit und verfolge via Radio die Ereignisse in Deutschland und Somalia. Sein Held beginnt dann, sich in der selbstgewählten Isolation seiner "Schwarzen Zelle" sowohl mit dem in Stammheim einsitzenden Terroristen Jan-Carl Raspe zu identifizieren, als auch mit dem Häftling der RAF, genannt "Schiller". Er trägt also den deutschen Konflikt in sich selber aus und protokolliert ihn in seinem Tagebuch minutiös.

Der Roman von Michael Wildenhain, »Erste Liebe Deutscher Herbst«, wirkt dagegen vergleichsweise distanziert, wie am Reißbrett entworfen, als sei es obszön, das Schockereignis jener Jahre erneut zu erzählen. Wildenhains Ich-Erzähler ist ein 18jähriger Abiturient, der in das Sympathisantenumfeld gerät.

Anders als Wildenhain spielt Heinrich Breloer bewußt auf der Klaviatur der großen Gefühle. Sein Erzählen ist suggestiv und dramaturgisch geschickt inszeniert. Sein Amalgam aus Fakten und Fiktionen scheut weder Kitsch noch Rührung, und vermutlich ist nie zuvor ein Text den tatsächlichen Ereignissen und Gefühlslagen jenes Herbstes so nahe gekommen. Breloer kennt jede einzelne Perspektive, mit einem Wort oder einem Satz switcht er in die Perspektive des Opfers oder Täters.

Neben den literarischen Texten sind zahlreiche Sach- und Erinnerungsbücher zum Thema erschienen. Bereits Anfang 1978 veröffentlichte der Verlag Neue Kritik eine Anthologie mit Dokumenten, die jetzt neu ediert worden ist. Der Band enthält Fotos der in Stammheim Einsitzenden, faksimilierte Titelseiten der ›Bild‹-Zeitung, Artikel aus dem berüchtigten ›Mescalero‹ , die Briefe Hanns Martin Schleyers an die Familie und an die politisch Verantwortlichen, zeitgenössische Kommentare von Erich Böhme, Heinrich Böll, Jürgen Habermas, Golo Mann. Sachgerechte Beiträge von Wolfgang Kraushaar stehen hier neben Zeitzeugenberichten von Ursula Krechel und Michel Foucault, die sich plötzlich, aufgrund einer entfernten Ähnlichkeit mit einem Terroristen oder einer hysterischen Anzeige, vorläufig festgenommen sehen.

In ihrer Doppelbiographie »Baader und Herold« schildert Dorothea Hauser den sehr ungleichen Kampf zwischen dem Präsidenten des BKA und dem führenden Kopf der sogenannten "Baader-Meinhof-Bande". Herold ist für den Nervenkrieg mit der zweiten Generation der Terroristen gut gerüstet, während Andreas Baader schon im Vorfeld der Ereignisse nervlich am Ende scheint. Die Stammheimer setzen ihre Anhänger `draußen´ unter Druck und drohen mit Selbstmord: "ihr habt noch 14 tage, dann nehmen wir unser schicksal selbst in die hand." Peter-Jürgen Boock, der einzige Terrorist bislang, der seine Erfahrungen auch literarisch verarbeitet hat, schildert in seinem Roman »Abgang« (1988) einen ähnlichen Versuch der Gefangenen, ihre Genossen zum Handeln zu zwingen. Irmgard Möller hat die Selbstmordabsichten der Stammheimer erneut bezweifelt. Von ihr, Birgit Hogefeld und Inge Viett sind Gespräche und »Einsprüche« erschienen.

Der Kampf um die Darstellung geht weiter.