Zu jedem Risiko bereit - Zeugnis eines bewaffneten Lebens

Shmuel Rons Chronik vom jüdischen Widerstand in Polen

Von Jamal TuschickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jamal Tuschick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Vater las die "Frankfurter Zeitung". Bis zum nachdrücklichsten Beweis des Gegenteils glaubte er an die Immunität des deutschen Geistes gegen das Nazigift. Die Mutter spürte jüdische Themen in Beethovens Sonaten auf. Gewisse Maßnahmen einer Kulturnation überstanden beide nicht. "Zum Leben verurteilt" wurde der Sohn, Samuel Rosencwajg, der seit seiner Einwanderung in Israel 1948 Shmuel Ron heißt. Ron stammt aus Katowice. Dort erlebte er 1939 das Ende der Freundschaften mit polnischen Nachbarn. In seinen nun auch auf Deutsch vorliegenden Erinnerungen - dem vehementen Zeugnis eines bewaffneten Lebens -, illustriert Ron die Zäsur mit einem Prospekt früher Verheerungen. In dieser Zeit, als die Verfolgungen, deren Systematik sich den (potentiellen) Opfern hinter Willkürvermutungen verbarg, noch überschaubar waren, entwickelte Ron seine "Antennen" fürs Überleben in der Illegalität. Seine Entscheidungen traf er in Opposition zur Duldsamkeit der Eltern: "Ich konnte mir nicht vorstellen, daß ich eine Haltung der Passivität und Ohnmacht einnehmen würde". Die tödliche Depression der Älteren erschien ihm "würdelos". 1940 schloß er sich dem Widerstand an, weil er "kein untätiger Zeuge all der Verbrechen" rings um ihn herum sein wollte.

Mit ihm, der sich durch die Fälschung von Dokumenten für Expertenarbeit qualifizierte, schoben sich vor allem junge Menschen an die Spitze des jüdischen Untergrunds. Ein Gefühl der Zusammengehörigkeit leitete sie, das die Mitglieder der jüdischen Jugendbewegungen vom Rest der Verfolgten trennte. Die Aktivisten verstanden sich als "Avantgarde" im doppelten Sinn: Gern hätten sie die Speerspitze einer jüdischen Armee gebildet, während sie gleichzeitig versuchten, "die Welt wachzurütteln" - mit niederschmetternden Ergebnissen. Shmuel Rons Widerstandschronik versteht sich insofern auch Abrechnung mit der lethargischen Öffentlichkeit. Den Menschen in der freien Welt, zumal den Juden in Palästina, macht Ron den Vorwurf, sich nicht im gebotenen Maß engagiert und ihre einschlägigen Unterlassungen nach Kriegsende tabuisiert zu haben.

Das Kämpferkollektiv enschied, wer mit falschen Papieren ausreisen durfte bzw. sollte, um als Sprachrohr der Zurückgebliebenen zu wirken. Anschaulich teilt sich in Rons Bericht denn auch der desperate Eifer von Aktivisten mit, die ihre adoleszente Energie in einem bombastisch ungleichen Kampf verbrauchten. So berichtet Ron etwa vom Antisemitismus im polnischen Widerstand. Ja selbst vom Judenrat wurden die jüdischen Freischärler verfolgt: denn die irrlichternden Aktionen der Kombattanten gefährdeten die Arrangements mit dem Usurpator. Einmal griffen jüdische Ghetto-Polizisten Ron auf, der jedoch meist auf der "arischen" Seite unterwegs war. Von Fall zu Fall gab er sich dort als Pole oder Deutscher aus. Er nächtigte in überfüllten Erdbunkern, in einem Haus der NSDAP gewährte ihm eine volksdeutsche Schnapsbrennerin Zuflucht.

Nach dem Vorbild des Aufstands im Warschauer Ghetto sollte auch anderenorts gekämpft werden, so daß Ron von Ghetto zu Ghetto wanderte. Er sah Menschen, die sich in Klärgruben verbargen, eine Mutter, die ihren Säugling ins Wasser warf, um ihm das Weitere auf dem Weg in die Vernichtung zu ersparen. Mehrmals entging er nach Verhaftungen nur knapp der Deportation. Eine Zyankalikapsel war sein wertvollster Besitz, den er schließlich seiner Schwester abtrat. Einmal rettete ihn der Umstand, daß er zur Schreinerei begabt ist, ein anderes Mal marschierte er - als deutscher Arbeiter "verkleidet" - mit einem schlichten "Heil Hitler" an den Wachen vorbei aus einem Ghetto. Zum üblen Schluß geriet er doch nach Auschwitz, sowie nach Mauthausen, wo er das Ende des Nazireichs erwartete. Die Empörung hat Ron nie verlassen. Er ist, wie sein Bericht aus den Jahren des Widerstands, ohne Trost.

Titelbild

Shmuel Ron: Die Erinnerungen haben mich nie losgelassen. Vom jüdischen Widerstand im besetzten Polen. Aus dem Englischen von Esther Kinsky.
Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1998.
168 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3801503275

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