Exotische Lesefrüchte eines Jahrhundert-Autors

Thomas Pekars Studie über Ernst Jüngers Orient-Rezeption

Von Reinhard WilczekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reinhard Wilczek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Arbeit des an der Tokioter Gakushuin-Universität lehrenden Thomas Pekar, der in der Vergangenheit bereits durch seine prämierte Dissertation über "Die Sprache der Liebe bei Musil" Aufsehen erregt hat, widmet sich einem Themenbereich, der gerade in unserer Gegenwart von einer bedrückenden Aktualität ist: dem Verhältnis von Orient und Okzident. Der Tokioter Germanist untersucht die Konstituenten dieses poetischen Diskurses im Werk des 1998 verstorbenen Ernst Jünger, den man wohl den letzten großen literarischen Kosmopoliten im ausgehenden 20. Jahrhundert nennen kann.

Pekar betrachtet Jüngers Werk auf der Suche nach orientalischen Spuren dabei unter drei leitenden Fragestellungen: Welche mythischen Konstellationen spielen in Jüngers Orient-Bild eine Rolle? Welche Lektüren konstituieren dieses Bild mit? Welchen Einfluss haben Jüngers Reisen auf diesen Denkkomplex? Das Bild, das der Literaturwissenschaftler an dieser methodischen Leitlinie von Jüngers Orient-Rezeption entwirft, ist vielschichtig und differenziert.

Pekar zeigt, dass der frühe und mittlere Jünger eine primär westliche Sichtweise des topografisch wie kulturtheoretisch schwer fassbaren Begriffs entwickelt hat, die sich vor allem auf Leseerfahrungen stützt. Wesentliche Vermittlungsinstanzen dieser literarischen Verortung des Themas sind Bachofens "Mutterrecht" (1861) und die "Geschichten aus Tausendundeiner Nacht" gewesen. Wie für viele andere Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts ist der Orient in dieser Phase auch für Jünger "ein imaginärer Rückzugs-, Flucht- und Gegenraum", den er der durchrationalisierten Welt der Moderne gegenüberstellt. An einzelnen Schlüsselfiguren wie Alexander, Sindbad, Ali Baba oder Aladin kann Pekar verdeutlichen, dass es vor allem die Vorstellungskomplexe von Gefahr und Abenteuer sind, die den frühen Jünger angezogen haben und seine Sicht des Stoffes zunächst bestimmten. Eine Dekonstruktion dieser romantischen Orient-Vorstellungen wird in den "Afrikanischen Spielen" (1936) sichtbar, die das Scheitern des idealisierten Vorstellungsbildes an der Realität thematisieren.

Die starke Hinwendung Jüngers zu mythischen Denkfiguren wie "Tod", "Erde" oder "Blut", die nicht nur eine charakteristische Signatur seines Gesamtwerkes markieren, sondern Jüngers Schaffen auch immer wieder in die gefährliche Nähe nationalsozialistischer Paradigmen ziehen, sieht der Verfasser wesentlich durch seine Orient-Rezeption beeinflusst. Auch das Prinzip des stereoskopischen Blicks findet - so Pekar - seine Grundfassung in den "Geschichten aus Tausendundeiner Nacht", "die deshalb in dieser Hinsicht für Jüngers spezifisches Literaturverständnis paradigmatische Bedeutung haben". Entscheidende Impulse verleiht Jüngers Orient-Lektüre daneben auch seiner Konzeption der Mauretanier, deren despotisches Profil auf Gestalten aus "Tausendundeiner Nacht" zurückgeht, ebenso wie das zentrale Motiv der Technikkritik auf die Figur von Aladin mit der Wunderlampe zurückgeführt werden kann.

Pekars Überzeugung zufolge überwindet der späte Jünger die Dichotomie von Orient und Okzident in seinem Alterswerk. Erste Anzeichen einer Vermittlung sieht der Literaturwissenschaftler in "Annäherungen. Drogen und Rausch" (1970): Nun wird die "kriegerisch-politische Polarität [...] aufgebrochen und durch Internalisierung, durch Hereinnahme in den je individuellen Menschen, integriert". Eine wichtige Rolle spielt in diesem Annäherungsprozess auch die starke Reisetätigkeit, die Jünger in den 60er und 70er Jahren entfaltet und die ihn mehrfach nach Afrika und Asien führt. Ausgehend von diesen Reiseerfahrungen gelangt Jünger - so Pekar - zu der Einschätzung, dass in "der Konzeption eines transitiven Zeichens", in der "Fusion von Ideogramm und Buchstabe", wie sie etwa in der chinesischen Schrift sichtbar wird, eine Möglichkeit greifbar wird, "der modernen Welt eine nicht-technische, sondern eine mythische Verankerung zu geben".

Man wird diesen Ausführungen des Tokioter Germanisten größtenteils zustimmen können, wenngleich in Detailaspekten auch Ergänzungen oder Skepsis angebracht sind. So dürfte etwa in der referierten kulturpolitischen Orient-Diskussion des 18. Jahrhunderts ein Hinweis auf das "consilium aegyptiacum" des Philosophen Leibniz wohl nicht fehlen, das - von Ludwig XIV. verworfen - später von Napoleon Bonaparte realisiert wurde. Eine zentrale Rolle für Jüngers Orient-Rezeption hat daneben sicher auch Walter Schubarts Werk "Europa und die Seele des Ostens" (1938) gespielt, wie zuletzt (siehe Wilczek-Rezension in literaturkritik.de) deutlich gemacht wurde. Einen Hinweis auf diese wichtige Jünger-Lektüre, die für Jüngers Verständnis des Ost-West-Gegensatzes in den 40er und 50er Jahren konstitutiv gewesen ist, wird man bei Pekar aber vergeblich suchen. Auch wirkt der Versuch, die meisten von Jüngers Schlüsselthemen in einen Zusammenhang mit seiner Orient-Rezeption zu bringen, nicht immer überzeugend.

Jüngers Warnung, dass die von ihm skizzierte Möglichkeit einer Annäherung der beiden Kulturen auch schnell wieder in ihr Gegenteil umschlagen könnte, ist - wie vieles, was dieser Autor prognostiziert hat - von erstaunlicher Weitsicht. Und wenn Thomas Pekar am Ende seiner lesenswerten Studie in einem kritischen Resümee mit Jünger formuliert, dass "vor allem der Abbau des Gedankens der okzidentalen Hegemonie" dringlicher denn je sei, dann müssen wir mit Blick auf das gegenwärtige Geschehen erkennen, dass wir von einer Verständigung oder gar Synthese der beiden Denkweisen zum jetzigen Zeitpunkt weiter entfernt scheinen als jemals zuvor.

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Thomas Pekar: Ernst Jünger und der Orient. Mythos - Lektüre - Reise.
Ergon Verlag, Würzburg 1999.
264 Seiten, 45,50 EUR.
ISBN-10: 3933563402

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