Lesen am Ende des 20. Jahrhunderts

Ein neues Handbuch zur Kulturtechnik

Von Ute SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach einem Vierteljahrhundert wird nun ein neues Handbuch zur Kulturtechnik Lesen vorgelegt ("Lesen - ein Handbuch" erschien 1974), das charakteristischerweise sowohl eine Bestandsaufnahme der aktuellen Leserforschung bietet als auch historische Aspekte nicht vernachlässigt. Eingeleitet wird das Handbuch mit Erich Schöns Abhandlung zur "Geschichte des Lesens", die, verstanden als "Sozialgeschichte" des Lesens, interdisziplinäre Anknüpfungspunkte zur Mediengeschichte wie auch zur allgemeinen Sozial-, Bildungs- und Kulturgeschichte herstellt. Schön löst sich dezidiert in der Bewertung von oft kolportierten Befunden zur Leserforschung: Er konstatiert ein "exemplarisches" Lesen bis ins 18. Jahrhundert unter Umgehung der von Engelsing 1970 geprägten Begriffe des "intensiven" bzw. "extensiven" Lesens und hebt die "Leserevolution" in der Sach- und Fachliteratur im 18. Jahrhundert hervor, die eine Ablösung religiöser Erbauungsliteratur durch das wachsende Interesse an Sachbüchern provozierte.

Dem historischen Überblick folgt Heinz Bonfadelli mit dem aktuellen Thema "Leser und Leseverhalten heute - Sozialwissenschaftliche Buchlese(r)forschung": Hier wird der empirische Ertrag der aktuellen Leserforschung dargelegt, die Lesegewohnheiten und Buchlesen als medienbezogenes soziales Handeln begreift. Nach Skizzierung der institutionellen Forschungsgeschichte und Darlegung der unterschiedlichen empirischen Studien in Deutschland seit Ende der fünfziger Jahre sowie in anderen europäischen Ländern und den USA konkretisiert Bonfadelli die "Strukturen der Leserforschung", benennt den Gegenstandsbereich (Umgang mit dem Medium Buch aus personenbezogener Perspektive) und formuliert Fragestellungen der Buch-/Lese(r)forschung. Bonfadelli geht dabei sowohl auf Methoden der aktuellen Leserforschung ein als auch auf die Entwicklung theoretischer Perspektiven. Einen weiteren Schwerpunkt zur zeitgenössischen Lese(r)forschung bilden die fundierten wie detaillierten Ausführungen von Ursula Christmann und Norbert Groeben zur "Psychologie des Lesens", die den umfangreichsten Beitrag (fast 80 Seiten) im gesamten Handbuch beisteuern. Fragestellungen und internationale Forschungsergebnisse zum individuellen Leseprozeß und zur Textwirkungsforschung werden dargelegt. Kurz nimmt sich dagegen die im Anschluß daran stehende kenntnisreiche Untersuchung von Marc Wittmann und Ernst Pöppel die "Neurobiologie des Lesens" aus, in deren Zentrum die Mechanismen stehen, die das Gelesene im Gehirn verarbeiten. Neben den Abhandlungen, die sich exklusiv auf den Lesevorgang konzentrieren, stehen skizzenhafte Abrisse zu den verschiedenen Text-Trägern. Dietrich Kerlen setzt sich mit den traditionellen "Druckmedien" auseinander. Ihnen schließt sich folgerichtig die Skizze Klaus Gerhard Saurs über die "Elektronischen Medien" an, die wiederum durch eine von Ernst Fischer zusammengestellte "Bibliographie 'Elektronische Medien'" vervollständigt wird. Die Bibliographie berücksichtigt nicht nur gedruckte Titel, sondern auch elektronische Publikationen mit Angabe ihrer URL. Wie Saur ausführt sind momentan 16000 Titel als CD-ROM lieferbar, deren Anteil am Gesamtumsatz des Buchhandels aber weniger als 2% ausmacht. Saur gelangt zu dem Fazit, daß der CD-ROM-Markt der Zukunft im Zeitschriftenbereich liegt; für die Belletristik und auch für das Fachbuch sind diese elektronischen Medien auch zukünftig wahrscheinlich irrelevant.

Gerhard Plumpe und Ingo Stöckmann referieren über das Thema "Autor und Publikum - Zum Verhältnis von Autoren und Lesern in medienspezifischer Perspektive". Die Autoren wählen weitgehend den systemtheoretischen Zugang zu altbekannten Fakten in der Entwicklung berufsständischer Interessen von Schriftstellern, was über die Grenzen des spezifischen Handbuch-Themas schon weit hinausreicht. Enger zum Themenfeld "Lesen" gehört freilich das Problem des reglementierten Zugangs zu Information. Dietrich Löffler beschäftigt sich mit Fragen der "Literarischen Zensur", die fast so alt wie Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Bleilettern ist. Zensur dient grundsätzlich der Herrschaftsstabilisierung, so unterscheidet Löffler die Produktionskontrolle (Autoren und Verleger) von der Distributionskontrolle (Bibliotheken und Buchhandel); Zielgruppe sind in beiden Fällen die Leser, so daß von Diffusionskontrolle gesprochen werden kann. Nach Darlegung der unterschiedlichen Auffassungen und wissenschaftlichen Zugangsweisen zum Themenfeld Zensur liefert Löffler einen historischen Abriß mit literarischen Beispielen aus der Zensurgeschichte von der Inkunabelzeit bis heute. Es folgen Ausführungen zu den Buch-Vermittlungsinstanzen Buchhandel und Bibliotheken. Während Christian Uhlig in seinem Beitrag "Buchhandel" den Schwerpunkt auf die aktuelle Buchbranche legt, liefert Georg Ruppelt im Beitrag "Bibliotheken" außer einem Abriß zur aktuellen Bibliothekslandschaft eine ebenso knappe, wie aber auch informative Skizze zur historischen Entwicklung der Bibliotheken. Dem Charakter des Handbuchs als Nachschlagewerk werden vor allem die Bestandsaufnahmen zu den folgenden Aspekten gerecht: "Politische Rahmenbedingungen der Lesekultur" (Darstellung der Bund- und Länderkompetenzen in der Leseerziehung) sowie der Beitrag "Leseförderung" (im Hinblick auf das Engagement von privaten und öffentlichen Institutionen). Beide Beiträge stammen jeweils von einem Autorenteam. Bodo Franzmann liefert daran anschließend ein kommentiertes Adressenverzeichnis der einschlägigen "Institutionen der Literaturvermittlung und Leseförderung" in der Bundesrepublik, Österreich und der Schweiz; Rüdiger Thomas gibt einen Abriß zur "Literatur- und Leseförderung in der politischen Bildung" und setzt gegen jeglichen Kulturpessimismus auf das Lesen und auf das Buch als "unverzichtbaren Bestandteil politischer Bildung". Die in der aktuellen Leserforschung unternommene Unterscheidung zwischen Lesern, Wenig- und Nichtlesern geht in aller Regel von der Prämisse aus, daß die Gesamtbevölkerung konform geht mit dem potentiellen Lesepublikum. Daß dem nicht so sein muß, schildert Ekkehard Nuissl in seiner Beschreibung vom "Lesen- und Schreibenlernen in der Erwachsenenbildung". Nach Schätzungen der deutschen UNESCO-Kommission liegt die Analphabetenrate in der BRD zwischen 0,75% und 3% der Bevölkerung. Eine aktuelle empirisch-statistische Studie mit exaktem Zahlenmaterial existiert nicht; seit 1912 wurde die Schreib- und Lesekompetenz der deutschen Bevölkerung nicht mehr erhoben. Es steht auch keineswegs fest, was "illiterat" Ende des 20. Jahrhunderts heißt, denn Lesen und Schreiben gelernt haben fast alle, was graduell verschieden wieder verlernt wurde. Wiederum ein Autorenteam widmet sich im Anschluß dem ersten Lesenlernen in der Schule: "Lesesozialisation, Literaturunterricht und Leseförderung in der Schule". Neben den "klassischen Themen"zur Kulturtechnik Lesen wird hier - im Gegensatz zum 25 Jahre älteren Handbuch - auch erstmals einem Thema Platz eingeräumt, das nicht zu den traditionellen Fragestellungen der Lese(r)forschung gehört: Die buchstäblich verschiedenen Perspektiven und Blickwinkel, aus denen Leser und Lektüre betrachtet werden können, werden im Beitrag von Jutta Assel und Georg Jäger analysiert. Sie betreten ein bis jetzt noch wenig beachtetes Feld in der (historischen) Leser(r)forschung, die Leser und das Lesen im Bild: "Zur Ikonographie des Lesens". Die Darstellung von Lesern und Lesesituationen in der bildenden Kunst hat eine lange Tradition von der Darstellung in Handschriften des Mittelalters bis in die Gegenwart hinein. Ihren quantitativen Höhepunkt erreichten die Bilder in der Zeit vom 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Lese(r)abbildungen lassen sich vor allem in drei Kontexten feststellen: in der christlichen Heilsgeschichte, im Zusammenhang von Bildung und Wissen und im Zusammenhang von Sinnengenuß und Sexualität. Dem individuellen Leser stehen Lesergruppen im Bild gegenüber, die über die Sozialformen des Lesens im historischen Kontext Rückschlüsse zulassen. Ein weiterer Aspekt unterscheidet das neue "Handbuch Lesen" vom alten: die für die siebziger Jahre wissenschaftshistorisch typisch starke sozialwissenschaftliche Ausrichtung des alten Handbuchs ist 1999 zugunsten der medienwissenschaftlichen Perspektive aufgegeben worden. So wird auch ein Ergebnis der Leserforschung der letzten 20 Jahre deutlich: der Lesekompetenz steht die Medienkompetenz gegenüber, dem klassischen Analphabeten der Medienanalphabet. Die Konzeption des neuen Handbuchs erweist sich als Gewinn für den Praktiker wie für den Wissenschaftler; es berücksichtigt alle wesentlichen Aspekte zum Themenfeld Lesen und die meist ausführlichen bibliographischen Angaben, teilweise annotiert, beschreiben den aktuellen Forschungsstand.

Titelbild

Bodo Franzmann / Klaus Hasemann / Dietrich Löffler (Hg.): Handbuch Lesen.
Im Auftr. d. Stiftung Lesen u. d. Deutschen Literaturkonferenz.
K. G. Saur Verlag, München 1999.
690 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3598113277

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