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Anselm Kiefer in der Monographie von Daniel Arasse

Von Viktor SchlawenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Viktor Schlawenz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die reich ausgestattete Anselm-Kiefer-Monographie von Daniel Arasse beginnt mit einer eindrucksvollen Bildstrecke ganz- und doppelseitiger Fotografien: Die Aufnahmen zeigen eine große Fertigungshalle, diverse Einblicke in Kiefers Atelier(s). Sie zeigen verlassene Arbeitsräume, und nur in der Fertigungshalle sind zwei Frauengestalten zu erkennen, die sich auf einen Haufen Sperrmüll zubewegen. Sind es Industrieabfälle, ist es eine Installation? Alle Aufnahmen muten apokalyptisch an, wie Endzeitwelten aus Abfall und Dreck. Im Zentrum oder an der Peripherie werden scheinbar verlassene Kunstgegenstände sichtbar, Plastiken, Rauminstallationen, Bilder im Bild. Wo verlaufen die Grenzen dieser Ästhetik des Hässlichen, fragt sich der Betrachter, wo beginnt die Installation, wo der sie umgebende Raum? Was ist die Arbeit des Künstlers, was Object trouvé?

Anselm Kiefer, geboren 1945, gehört zu den bedeutenden bildenden Künstlern der Gegenwart, die unser Sehen verändert haben. Drei große thematische und motivische Komplexe sind in seinem Werk auszumachen: Die Welt der Religionen und ihrer (Auferstehungs-)Mythen, die germanische Mythen- und Sagenwelt und ihre historischen Schnittmengen, und schließlich die Materialität der modernen Memoria und ihrer Überlieferungsträger, allen voran das Buch und die Fotografie.

Als Wieland Schmied vor mehr als zwanzig Jahren seine legendäre Schau "Zeichen des Glaubens - Geist der Avantgarde. Religiöse Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts" zeigte, war Anselm Kiefer noch nicht dabei. Heute wäre er unverzichtbar. Schon der erste Komplex dieser Monographie, "Labyrinth" genannt, erinnert entfernt an einen Kreuzweg, eine Altarwurzel oder an die alte Vorstellung, dass der Himmel nicht leer ist, sondern hierarchisiert und von Engeln bevölkert. Mag dies noch assoziativ sein, so lassen Kiefers großformatige Öl- und Acrylbilder von 1973, "Resurrexit" und "Vater, Sohn und Heiliger Geist," keinen Zweifel mehr an dieser Lesart. Spätere Arbeiten wie "Himmelsleiter" (von 1990) verwenden auch Materialien wie Blei, Asche, Scherben, Kleidungsstücke oder Schlangenhaut.

Schweres Blei und ultraleichte, getrocknete Pflanzen und Pflanzenreste bilden in den 80er und 90er Jahren bevorzugte Materialien des Künstlers. Bleibücher in Stahlregalen, verhangen oder geschmückt mit filigranen, trocken-brüchigen Tomatenstauden, Stroh, Zweigen vom Rosenstrauch oder Olivenbaum etcetera, rufen die philosophisch-literarische Tradition ab, in der sich Kiefer immer schon bewegt. Eine Installation aus dem Revolutionsjahr 1989 - es zeigt einen Kampfjet aus Blei(-büchern), Glas und Mohn - ist zu gleichen Teilen nach Paul Celan und Walter Benjamin benannt: "Mohn und Gedächtnis - Der Engel der Geschichte". Für diese Buchkunst wird Anselm Kiefer zu Recht gerühmt. Es gibt, abgesehen vielleicht von Dieter Roth (1930-1998), keinen vergleichbaren Künstler, der sich so innovativ mit dem Medium Buch auseinandergesetzt hätte. Buch und Fotografie bilden dabei meist eine Einheit. "Für Genet" (1969) ist eine erste Serie von "Originalphotographien", die Kiefer zu einer Mappe, genauer: zu elf Doppelseiten (plus Titel und Rücktitel) aufbindet und mit Texten und - in einem Fall - auch schon mit einer Übermalung versieht. Auf einem Foto ähnelt der Künstler dem jungen Achternbusch ("Das Gespenst", 1983), auf einem zweiten steht er provokant in Reiterhosen am Meer, die Hand zum Hitlergruß erhoben. Ein drittes Bild zeigt ihn in der Haltung eines Gehenkten auf einem Ateliertisch. Mit Ludwig II. von Bayern ist hier bereits die deutsche (und germanische) Märchen- und Sagenwelt thematisiert, die zugleich in die Realgeschichte reicht (bzw. umgekehrt). "Hermannsschlacht" (1977), "Kyffhäuser" (1980), "Siegfried's Difficult Way To Brünhilde" (1977), "Varus" (1976) und "Der Rhein" (1983) heißen Arbeiten, die für Mythos und Geschichte gleichermaßen anschlussfähig sind.

Die Monographie von Daniel Arasse ist auf angenehme Weise kenntnisreich und objektbezogen. Sie zeigt das "poetische Potential" des Künstlers auf, seine "Kraft" und "Aura", die in den Themen, den Materialien und ihrer Bewältigung zum Ausdruck kommen. Arasse gelingt die erste große Darstellung aus einem Guss, die zugleich Analyse und Synthese der "Geschichtsspuren" ist, die Anselm Kiefer in seinem Werk ausgelegt hat. Die Reproduktion der Bilder ist meisterhaft und selbst schon ein Beispiel für große Buchkunst.

Kein Bild

Daniel Arasse: Anselm Kiefer-Monographie.
Schirmer/Mosel Verlag, München 2001.
328 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3829600143

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