Vom Kyniker zum Zyniker

Peter Sloterdijks Wende: eine Verteidigung und eine Kritik seiner Dialektik des Humanismus

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

"Regeln für den Menschenpark": Schon der Titel der umstrittenen Rede Peter Sloterdijks verletzt Sensibilitäten humanistischer Tradition. Er faßt die menschliche Gesellschaft in das Bild eines Tierparkes, in dem die Lebewesen ihrer wilden Gefährlichkeit beraubt sind. Die Differenz zwischen Tier und Mensch ist dem Humanismus heilig wie kaum etwas anderes, sie zu unterlaufen gehört zum Repertoire jener Schock- und Provokationstechniken, mit denen sich die ästhetische Moderne gegenüber den übermächtigen Traditionen des deutschen Idealismus und der klassischen Ästhetik profilierte. Kafkas "Verwandlung" oder auch sein "Bericht an eine Akademie" waren da keine singulären Phänomene. Der Bericht des Affen über den Prozeß seiner Menschwerdung liest sich wie eine Illustration zu Sloterdijks Ausführungen, die an den literarischen Provokationstechniken der Moderne teilhaben. Kafkas Bildlichkeit entspricht ganz dem metaphorischen Rahmen von Sloterdijks Bericht an seine akademischen Zuhörer über die humanistische Zähmung der Bestie Mensch. "Das Etikett Humanismus erinnert - in falscher Harmlosigkeit - an die fortwährende Schlacht um den Menschen, die sich als Ringen zwischen bestialisierenden und zähmenden Tendenzen vollzieht."

Beschreibungen solcher Kämpfe hatte Sloterdijk schon in jenem zweibändigen Großessay gegeben, der 1983 den bis dahin noch ganz außerhalb akademischer Sphären und medialer Präsenz arbeitenden Privatgelehrten gleichsam über Nacht berühmt machte, in seiner "Kritik der zynischen Vernunft". Der Essay handelt vom Widerstreit zweier Sozialcharaktere, deren Namen sich nur in einem einzigen Buchstaben unterscheiden: dem Kyniker und dem Zyniker. Der Autor sympathisiert mit dem Kyniker, der Zyniker dagegen repräsentiert all die negativen Merkmale der abendländischen Zivilisation, die der Essay kritisiert. Der Zyniker steht in der sozialen Hierachie "oben", auf der Seite "der Herrschenden und der herrschenden Kultur", der Kyniker provoziert ihn "von unten", spielt gegen die Vormacht der Zyniker eine anarchische Gegenmacht aus, führt ein "Dasein im Widerstand, im Gelächter, in der Verweigerung, in der Berufung auf die ganze Natur und das volle Leben". Sloterdijks Kyniker, den er vor allem am Beispiel des Diogenes ausmalt und in den antibürgerlichen Boheme- und Subkulturen jüngerer Zeit wieder aufspürt, ist rebellisch, frech, heiter, unseriös, plebejisch, erotisch ungehemmt, körperlich schamlos; er ist, kurzum, unzivilisiert, also dem "eigentlichen Leben" nahe. Er ist, im Vokabular der gut fünfzehn Jahre später erschienenen Rede gesprochen, das ungezähmte Tier, dem es gelingt, sich der Dressur durch den Humanismus zu entziehen. In Sloterdijks Humanismuskritik von heute ist die Vernunftkritik von damals noch wiederzuerkennen. In der Tradition jener "Dialektik der Aufklärung", mit der Horkheimer und Adorno etwa zur gleichen Zeit, in der Heideggers Humanismusbrief entstand, den Umschlag aufklärerischer Befreiungsprogramme in freiheitswidrige und lebensfeindliche Disziplinierungs- und Herrschaftspraktiken kritisierten, suchte Sloterdijk die Menschheitsgeschichte nach Lebensformen ab, die sich solchen Praktiken entzogen.

Humanismuskritik als Kritik an harmlos sich gebenden Disziplinierungs- und Machttechniken, das ist allerdings nur die eine Seite der Rede. In ihr wird der Humanismus seiner Harmlosigkeit beraubt, mit der er verdeckt, was die so sanft erscheinenden Domestizierungen des Menschentieres durch Kulturtechniken wie die des Lesens und des Schreibens auch waren: eine Sache von "Abrichtungen und Züchtungen" sowie der sozialen Selektion. So hatte es, nach Nietzsche und wohl unter dessen Einfluß, schon Kafkas Bericht veranschaulicht. Ihre größte Wirksamkeit erreichten die humanistischen Bildungsbemühungen oder, wie Sloterdijk sie desillusionierend nennt, "Anthropotechniken", wo es ihnen gelang, soziale Normen und Werte im Inneren der menschlichen Subjekte als Selbstzwangapparaturen zu etablieren. Kafkas 'erfolgreich' dressierter Affe weiß von der psychischen Gewalt des Erziehungs- und Zivilisationsprozesses, den er durchgemacht hat: "ach man lernt, wenn man muss, man lernt, wenn man einen Ausweg will; man lernt rücksichtslos. Man beaufsichtigt sich selbst mit der Peitsche; man zerfleischt sich beim geringsten Widerstand. Die Affennatur raste, sich selbst überkugelnd, aus mir heraus."

An dieser Art von Zivilisations- oder Humanismuskritik, die selbst noch humanistischen Ansprüchen folgt, partizipierte auch die Kritische Theorie. Sloterdijk steht ihr weniger fern, als seine erbosten Todesmetaphern in dem Brief an Jürgen Habermas glauben machen. Schon die vor allem gegen Adorno gerichteten Passagen in der "Kritik der zynischen Vernunft" standen diesem doch sehr nahe. Sie wendeten sich lediglich gegen den "Negativismus", mit dem die Kritische Theorie ihren Standort auf einem "Schmerz-Apriori" gründete und im "falschen Leben" kein "richtiges" mehr finden mochte. "Das masochistische Element hat das kreative überflügelt. Der Impuls der Kritischen Theorie wird reif dafür, die Klammer des Negativismus zu sprengen."

Dem "traurigen", aus dem "Schmerz" geborenen Diskurs Kritischer Theorie setzte der Nietzscheverehrer Sloterdijk den unbeschwerteren Gestus "fröhlicher Wissenschaft" entgegen. Das war jedoch weniger eine Verabschiedung als eine Fortsetzung Kritischer Theorie mit veränderten Mitteln. Noch Sloterdijks Humanismuskritik von heute schreibt in wesentlichen Gesichtspunkten die "Dialektik der Aufklärung" fort.

Gegen Ende nimmt sie allerdings eine frappierende Wende. Frappierend daran ist zudem, dass sie kaum bemerkt wurde, anscheinend auch nicht von Sloterdijk selbst. Vielleicht ist sie ihm, im Druck, seine zunehmend diffuse Rede zu beenden, auch nur unterlaufen. Die eklatanten Widersprüche zum Vorangehenden legen das nahe. Doch auch Fehlleistungen dieser Art haben ihre symptomatische Bedeutung. Der Humanismus wird am Ende der Rede nicht mehr als verkapptes Machtinstrument kritisiert, sondern als zu schwaches, in seiner Harmlosigkeit sogar irgendwie lächerliches Werkzeug, das durch ein wirkungsvolleres zu ersetzen ist. Es scheint, als wende sich der ehemalige Vernunft- und Machtkritiker Sloterdijk, ohne es zu merken, in den von ihm beschriebenen Kämpfen, wenn auch noch zögernd, jenen Mächten zu, die dazu imstande sein könnten, die noch unvollkommenen Disziplinierungsleistungen des Humanismus gentechnologisch zu perfektionieren. Der Kulturalismus, mit dem die vorderen Teile der Rede die biologische Determiniertheit des Menschen in ihre Grenzen verwiesen hatten, wendet sich in einen Biologismus, der der kulturellen Formbarkeit des Menschen nur noch wenig Gewicht beimißt. Heidegger wie auch Horkheimer und Adorno hatten Humanismus und Aufklärung in ihren herrschaftstechnologischen Aspekten mit Blick auf den Nationalsozialismus kritisiert. Das mag problematisch sein, aber in diesem Sinne, und nur in diesem, hat das reichlich abgegriffene und mißbrauchte Faschismus-Verdikt gegen Sloterdijk seine Berechtigung. Von Rassenhygiene, von sozialdarwinistischen Ideologien der Stärke oder von Entartungsverdikten findet sich in der Rede keine Spur. Ziel der Überlegungen ist nicht die wehrfähige Gesellschaft, für die Botho Strauß vormals in seiner weitaus fataleren und faschismusnäheren Provokation eingetreten war, sondern die sozial befriedete Gemeinschaft.

Sloterdijk hat es in der Rede dennoch nicht versäumt, ausdrücklich auf "die faschistische Eugenik" zu verweisen, wenn auch eher beiläufig. Die Distanzsignale zu den verqueren Vorstellungen früherer Philosophen über Menschenzüchtung bleiben allerdings unzulänglich, die Folgerungen und eigenen Positionen "verschwommen und nicht geheuer", wie er selbst konzediert. Sloterdijk zeigt sich also zumindest in diffuser Weise aufgeklärt über die Fragwürdigkeit seiner Ausführungen. Das ist eine Qualität, die er in den frühen achtziger Jahren dem Zyniker zugeschrieben hatte. Der ehemalige Kyniker Sloterdijk vollzieht in seiner Rede in der Tat eine Wende. Im Mund der Züchter wird die Tiermetaphorik, die vorher noch wie bei Kafka aus der Perspektive der Opfer verwendet wurde, um Empörung über die Inhumanitäten neuzeitlicher Disziplinierungstechniken hervorzurufen, zum eklatanten Zynismus. Wurde vorher noch mit Nietzsche machtkritisch die Priesterherrschaft jener beargwöhnt, die sich als Hüter, Hirten oder Erzieher berufen fühlen, andere zu zähmen, wurden Heidegger erfrischend respektlos Merkmale eines kryptokatholischen Pastoralphilosophen zugeschrieben, so sympathisiert Sloterdijk am Ende mit einer Herrschaft der "Weisen", denen die Regeln der Befriedungstechnologie anzuvertrauen sind. Die Bilder des "platonischen Zoos", die Sloterdijk lang und breit wiedergibt, sind in den heute stets mit assoziierten Kontexten gentechnologischer Diskurse eine Horrorvision. Sie verliert auch dadurch nicht ihren Schrecken, dass die den Menschenpark leitenden Regeln in Sloterdijks Vision durch eine verborgene Weisheit zu legitimieren sind, die sich heute nur noch in vergessenen Schriften der "Weisen" finden ließe. Da ist wohl an eine Elite von Schriftgelehrten gedacht, die solche Regeln vorgeben. Klar, daß Philosophen wie Sloterdijk dazu gehören. Man bewahre uns Schafe jedoch vor dem Zynismus solcher Hirten und schenke uns einen frechen Kynismus, um sich ihm zu widersetzen. Sloterdijks "Kritik der zynischen Vernunft" könnte uns dabei noch helfen.