Mein Moskau, mein Rom und mein kleiner David

Ossip Mandelstams gesammelte Briefe 1907-1938

Von Ute EisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Eisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David" beschwört der russische Dichter Ossip Mandelstam seine Frau Nadeschda Chasina, die aus dem Verbannungsort Woronesch über den halben Kontinent in die Hauptstadt gereist ist, um für ihn zu bitten. Sie stellt seine einzige Verbindung zur Welt dar. Im Brief davor ersucht er sie, an seiner Stelle ins Museum zu gehen, damit sie ihm die französischen Impressionisten daheim schildern möge: "Man muss sich sattsehen, ehe wieder etwas passiert."

Was damals mit Mandelstam "passiert" ist, bezeichnete Joseph Brodsky einmal als mutwillige Vergeudung einer ganzen russischen Dichter-Generation. Man musste nicht einmal zu den Akmeisten gehören, dem "Gewissen" der Dichtung, wie Mandelstam und seine Freunde Achmatova und Gumilev: Gebrochen wurde, wer sich der Doktrin von der Macht-Verherrlichungspflicht nicht beugte - im Falle Mandelstams auch physisch: Nach verschiedenen Stufen der Ignorierung und mehr oder weniger erfolgreichen öffentlichen Kampagnen gegen ihn trat er aus dem Schriftstellerverband aus, man verweigerte ihm Wohnung und Einkommen. Nachdem in den Kreml gedrungen war, Mandelstam hätte abfällige Verse über Stalin zum Besten gegeben, verbannte man den energischen und streitbaren Dichter. Die Folgen waren ein Selbstmordversuch, mehrere zermürbende Aufenthalte in Krankenanstalten und eine improvisierte Existenz in ständiger Angst vor erneuter Verhaftung. Mandelstams Leben endete am 27. Dezember 1939 in der Entlausungsbaracke eines sibirischen Transitlagers.

Das sind die Realien zu den über zweihundert Briefen, die Ralph Dutli im vorläufig letzten Band seiner Auseinandersetzung mit Mandelstam versammelt. Die meisten davon hat Mandelstam an seine Frau geschrieben, den Rest an Verwandte, Freunde und an sowjetische Behörden. Das Konvolut wird ergänzt durch einige Dokumente aus stalinistischen Archiven, worin die Order: "Isolieren, erhalten" und später das Todesurteil: fünf Jahre Lager enthalten sind. Die letzten Dokumente, die Dutli bringt, sind Nadeschda Mandelstams tollkühne Eingabe an Stalins Geheimdienst-Chef Lawrentij Berija, man möge sie als potenzielle Mitwisserin des Inhaftierten zur Zeugen-, wenn nicht gar Rechenschaft ziehen, und die - zwei Jahre später erfolgte - Ablehnung ihres Gesuchs. Mandelstam war zum Zeitpunkt der Abfassung beider Briefe längst tot. Um das Leben über die Mörder triumphieren zu lassen, reicht der Herausgeber noch die Stimmen bekannter Dichter nach. Deren Worte ließen sich freilich durch Gedichte ergänzen, zu denen Heaney, Walcott oder Celan angeregt wurden, doch vielleicht folgt ein solcher Band ja noch nach.

Für das Verdienst, dem deutschsprachigen Leser einen der bedeutendsten und moralisch vorbildlichsten Dichter Europas näher zu bringen, kann Dutli nicht genug gewürdigt werden. Der Zugänglichkeit Mandelstams dient Dutli, von dem eigene Gedichte jüngst erschienen sind, nun schon eine halbe Generation lang. Die Essays und Querverweise, die seine Übersetzungen ergänzen, sind durchdrungen von liebevoller Aufmerksamkeit und dem Bedürfnis, den Sonderling Mandelstam in allen seinen Lebensstufen und mit allen Eigenarten zu Wort kommen zu lassen. So ermöglicht Dutli dem elend zu Grunde gegangenen Dichter posthum dieselbe Art Dialog, die sich Mandelstam schreibend erhoffte: dass jede Flaschenpost seiner Gedichte, einmal aufgegeben, irgendwo irgendwann an Land genommen werden würde. Damit kommen Mandelstams Botschaften, in einer schrecklichen Zeit an einen providentiellen Leser gerichtet, mit seiner Hilfe doch noch an.

Die Kraft der Gedichte haben Mandelstams Briefe freilich nicht. In der Post finden sich weder lebendige Auseinandersetzungen zu Fragen der Literatur, noch Bemerkungen zur Epoche. Brisantere Dokumente werden ihre Adressaten - darunter Anna Achmatova oder Boris Pasternak - wohlweislich vernichtet haben.

Diese zufällig erhaltenen Briefe waren nur für einen einzigen Leser bestimmt, für Mandelstams Frau Nadeschda, für die er immer neue zärtlichen Anreden erfand. Das gastliche Haus der Mandelstams - die nie eines besaßen, geschweige denn bewohnten - besteht hingegen in Ossips Gedichten, und die wollen nach Einblick in die widrigen Umstände, unter denen sie zu Stande kamen, umso mehr gelesen sein.

Titelbild

Ossip Mandelstam: Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David.
Ammann Verlag, Zürich 1999.
500 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3250104108

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