Das 20. Jahrhundert? Gab´s gar nicht

Beitrag zur Podiumsveranstaltung "Die letzte Ölung. Das 20. Jahrhundert - am besten rasch vergessen?" Rückblicke anderer Art" am 26. 11. 1999 im Marburger Rathaus

Von Wilfried von BredowRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wilfried von Bredow

Was für das 20. Jahrhundert aus der Perspektive des 19. zu tun blieb

Das Ende des vorigen Jahrhunderts wurde von den (meisten) Zeitgenossen gefeiert als Erfolg und als Versprechen, und selbst die Apokalyptiker und Untergangs-Propheten hatten noch teil an dieser röhrenden Selbstgewißheit. Das 19. Jahrhundert war für die, die sich die zivilisierten Völker nannten (die anderen betrachteten sie als ihnen zur Verfügung stehend), ein planetarischer Prozeß gewesen, ein Weltalter, ein Siegeslauf der Technik, ganz kurz vor seinem glücklichen Ende. "Nie hat die Menschheit noch am Ende eines Jahrhunderts gestanden, so ganz durchdrungen von dem Gefühl: was war das für ein Ding, dieses einzige Jahrhundert, was für ein Wert ohne Gleichen, was für ein unerschöpflicher Reichtum; wie endlos lang war es im Sinne eines Weges, der uns auf Schritt und Tritt, in jeder Sekunde, ganze Welten enthüllt. Ein Weltalter, kein Jahrhundert! [...] Andere Jahrhunderte haben wilderen Kriegssturm gehabt als dieses, furchtbarere religiöse Kämpfe, ein beängstigenderes Aufeinanderprallen von Völkerkolossen [...] Das Geräusch des 19. Jahrhunderts, das wir zuerst hören, wenn wir uns seelisch darauf konzentrieren, ist kein Schlachtendonner und kein Feldgeschrei irgendwelcher weltlichen oder geistlichen Art: es ist das Donnern eines Eisenbahnzuges, der das Granitmassiv eines Schneegebirges im Tunnel durchquert, das Pfeifen von Dampfmaschinen, das Singen des Windes in Telegraphendrähten und der sonderbare heulende Laut, mit dem der elektrische Straßenbahnwagen an seiner Leitung hängend daherkommt." (Wilhelm Bölsche)

Das hat seine Poesie, aber die war dann doch nur ornamental, Kunst am Bau des Jahrhunderts. Denn in den antizipatorischen Ohren der Tunnel- und Brückenbauer, der Nordpol-, Südpol und Afrikafahrer, der Chemiker und Physiker, der Erfinder, Entdecker und Ärzte, aber auch der Utopisten und Optimisten, dominierte ein anderes Geräusch - das Seufzen uniformen Glücks, hervorgerufen von dem Gefühl: Wir haben's geschafft, wir sind angekommen, die Not ist prinzipiell vorbei, und was da noch aufzuräumen ist, dafür gibt's das 20. Jahrhundert.

Das 20. Jahrhundert als Projekt

In der Sichtweise der Optimisten war das 20. Jahrhunder schlicht und einfach das Projekt zur Vollendung des 19. Jahrhunderts. Sie hatten die Weichen für das 20. Jahrhundert gestellt, Darwin, Marx, Freud und die ganze Phalanx der Natur- und Menschenforscher. Die Vergangenheit wurde ins Museum gebracht, ebenso die "primitiven", die "indigenen" Kulturen. Allein dadurch, daß man sie sich anschaute, machte man sie als lebendige soziale Einheiten kaputt. Und warum auch nicht? Sie sollten wie alle anderen teilhaben am Projekt der Selbstschöpfung der Menschheit. Schlüsselworte und -konzepte waren: Fortschritt, Vernunft, Emanzipation, Diesseitigkeit. Jede Epoche, hat Walter Benjamin geschrieben, träumt ja nicht nur die nächste, sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin. Die Optimisten des 19. Jahrhunderts haben die Nachfahren heftig gedrängt!

Freilich gab es auch Pessimisten, Warner, Skeptiker. Man beklagte sich über die Hektik und Nervosität als typische Produkte des 19. Jahrhunderts. Aber die meisten, die sich in diesem Lager finden, wollte eben nur, wohin man nie kann, nämlich zurück - in die Beschaulichkeit, in die Ausdehnungsgrößen von Zeit und Raum früherer Jahrhunderte, in die Transzendenz. Aber Achtung: für einige gerät auch "das Bewußtsein, bis dahin unter dem Namen der Vernunft als Richtmaß des Menschen fraglos anerkannt, in eine Krise, aus der eine Umwälzung aller leitenden Vorstellungen hervorgeht, eine Revolution der gesamten Weltsicht, die sich im 20. Jahrhundert in ihren Konsequenzen entfaltet." (Volkmann-Schluck) Da haben wir also einen zweiten Auftrag an das 20. Jahrhundert: Konsequenzen entfalten. Das Projekt des 20. Jahrhunderts hieß: Nacharbeit, Ausbessern, zur Vollendung führen, Konsequenzen entfalten. Das 20. Jahrhundert war der Handlanger des 19.

Evaluation

Robert Musil bemerkt in seinen Tagebüchern, das 19. sei ein Jahrhundert der fehlenden Organisation gewesen. Man kann auch hinzufügen: der fehlenden Eindeutigkeit, was man schmerzlich empfand. Das Versprechen von Eindeutigkeit wird das große politische Geschäft des 20. Jahrhunderts, daran wollten und wollen mehr oder wenige alle partizipieren. Jede Menge Insolvenzen schrecken da, merkwürdig, merkwürdig, überhaupt nicht ab.

Man kann es, erster Formulierungsversuch, auch so ausdrücken: Das 20. Jahrhundert geriet zum Appendix des 19. Was dort vorgegeben, aufgehäuft, konzipiert, angefangen worden war, sollte nun zum endgültigen Triumph werden. Noch einmal ein paar Schlüsselwörter, entliehen Benjamins Passagen-Werk. Eisenbau, der Begriff des Ingenieurs, Organisation als Maschinerie, Umwälzung im Verhältnis der Kunst zur Technik, Weltausstellungen, Reklame, Lebensraum Büro, der Typus des Sammlers, Mäzene, Bohème, Berufsverschwörer, nouveauté. Alles genuine Angelegenheiten des 20. Jahrhunderts, aber von Benjamin dem vorigen zugeordnet. Fügen wir ein paar weitere Schlüsselwörter hinzu, nun aus den letzten Jahrzehnten: ABC-Waffen, Dienstleistungssektor, elektronische Datenverarbeitung und Kommunikation, Betonbau, Flugzeuge, Gerätemedizin, Prothetik und Antibabypille.

Man sieht schon, wohinaus ich will: Das 20. Jahrhundert hat die Zeit und den Raum zusammenschnurren lassen, damit ist einiges zum Teufel gegangen. Was aber damit gewonnen wurde, wurde einfach nur im Sinne, ja geradezu im Auftrag des 19. Jahrhunderts eingesetzt. Alles, alles stammt von dorther, die schönen Utopien und die schrecklichen, die Mobilisierungs-Ideologien und die Wünsche nach Sinn und Bedeutung, die Avantgarde und die Aussteiger, die Appelle an das Ganze und an das Individuum.

Die Verquickung des Technischen mit dem Organischen, von dem Dolf Sternberger im Blick auf das 19. Jahrhundert gesprochen hat, ist in diesem weiter perfektioniert worden. Daß nach der Physik und Chemie in den letzten Jahrzehnten nunmehr die beides umgreifende Biologie zur Leitwissenschaft von technischer Wissenschaft geworden ist und daß wir gerade in diesem Jahr wieder einmal Zeuge werden, wie die Geisteswissenschaften und die Philosophie ihre Kommentare den Ereignissen hinterherrufen, nicht einmal genaue Protokollanten dessen, was sich da ereignet hat, bestätigt einmal mehr die ungebrochene Kontinuität des 19. Jahrhunderts. Die Philosophen haben die Welt verändern wollen, aber sie haben sie nicht einmal richtig beschrieben.

Na und...

Ich scheine ins Schimpfen zu kommen, das muß ja nicht sein. Das Programm des 19. Jahrhunderts war, alles in allem großartig. Zwar vermessen und unmöglich zu realisieren, aber großartig. Nicht das 19. Jahrhundert ist hier das Problem, sondern das 20. Es ist eben nicht die Epoche geworden, in welcher der zivilisatorische Prozeß die Versprechungen von der Ausbreitung von Vernunft und Fortschritt entweder Schritt um Schritt in die Tat umgesetzt oder sie eigenkräftig modifiziert hätte. Der zivilisatorische Prozeß ist ein Mythos, der im 20. Jahrhundert nachhaltig abschlafft.

Nochmal: es geht trotz aller Distanz ja nicht um Vorwürfe. An wen sollte man sich da übrigens wenden? Es geht darum zu konstatieren, daß es das 20. Jahrhundert als eine Zeitspanne mit eigenem Leitmotiv, mit eigener spritueller Prägung, mit einer historischen Unverwechselbarkeit nicht gegeben hat. Alles, was hier passiert ist, war Teil der Programme des 19. Jahrhunderts. Um es mit Rudolf Kassner zu sagen: "Kein anderes Jahrhundert hat etwas ähnliches aufzuweisen wie dieses Neben- und Gegeneinander von Vermittlung und Auflehnung, Fortschritt und Kritik, Formlosigkeit und Mangel an Glauben." Nein, er meinte nicht unser Jahrhundert, sondern das 19. Aber so blieb es ja im 20. Jahrhundert. Was das für das 21. Jahrhundert bedeutet, kann ich nicht sagen. Vielleicht verbleiben wir ja auch dann im Bann des 19.

Denn, noch einmal und pointiert: das 20. Jahrhundert (als etwas Eigenständiges), das gab es gar nicht.