Trauer in der Villa Kunterbunt

Zum Tode der schwedischen Kinderbuchautorin Astrid Lindgren

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wo mögen nur meine "Pippi Langstrumpf"-Bücher hingekommen sein? Ich hätte sie nicht hergegeben, denn ich weiß genau: diese drei Bände - "Pippi Langstrumpf", "Pippi Langstrumpf geht an Bord" und "Pippi im Taka-Tuka-Land" - waren die ersten, die mir bewusst machten, dass Bücher einen Autor haben, eine Autorin in diesem Fall. Das wusste ich bei "Goldzöpfchen und die drei Bären" noch nicht (zu meiner Entschuldigung: hier war auch kein Autor angegeben). Aber Astrid Lindgren kannte ich als alte Dame, ich wusste, wie sie aussah, wusste, dass sie Schwedin war und dass ihre Bücher ins Deutsche übersetzt werden mussten - was immer das heißen mochte. Denn es wollte mir lange nicht einleuchten, dass es eine andere Sprache geben könne als die, die ich sprach und verstand. Später, mit sechzehn vielleicht, hat mich sehr beeindruckt, dass Lindgren in Schweden mehr Steuern zahlen musste als sie überhaupt verdiente, und wie jeder fragte ich mich, wie und wovon sie denn da leben könne. Aber ich war mir sicher, dass ihre Leser sie schon mit dem Notwendigsten versorgen würden.

Um Astrid Lindgren machte ich mir keine Sorgen, die war zweifellos so unerschrocken und wagemutig wie ihre Schöpfungen. Und siehe da, sie legte sich mit Schwedens Regierung an und erzielte einen Deal, quasi eine zweite "Lex Lindgren", der es ihr gestattete, etwas von dem, was sie verdiente, auch zu behalten. Später kämpfte sie für den Tierschutz, gegen Atomkraft und gegen Schwedens Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft, und sie mokierte sich darüber, dass ihre Landsleute so viele Ferienhäuser an die Deutschen verkauften.

Lindgren wurde am 14. November 1907 als Tochter von Samuel August und Hanna Ericsson im südschwedischen Näs geboren. Ihr erstes Kind kam unehelich zur Welt und wuchs zunächst auch nicht bei der Mutter auf. 1926 ging sie nach Stockholm und arbeitete für ein Anwaltsbüro. 1931 heiratete sie, und aus der Ehe mit dem späteren Direktor des Königlichen Automobilklubs ging eine Tochter hervor. "Pippi Langstrumpf" entstand 1944, als die junge Mutter mit einem Beinbruch das Bett hüten musste und ihrer 10-jährigen Tochter Karin ein Geburtstagsgeschenk machen wollte. Der erste Verleger, dem Lindgren das Manuskript anbot, Bonnier in Stockholm, machte den Fehler seines Lebens - und lehnte dankend ab. Raben & Sjögren hingegen verlegten das Manuskript - und haben bis heute 80 Millionen Bücher der Autorin verkauft.

1946 wurde Lindgren Redakteurin bei Raben & Sjögren. Vormittags schrieb sie an eigenen Texten, nachmittags las sie die Manuskripte anderer Autoren. Nach und nach entstanden Klassiker der modernen Kinder- und Jugendbuchliteratur, darunter die "Kalle Blomquist"-Geschichten (1946-1953), das Märchenbuch "Mio, mein Mio" (1954), "Karlsson vom Dach" (1955), die autobiographische Erzählung "Madita" (1960) und die Trilogie "Wir Kinder aus Bullerbü" (1947), "Mehr von uns Kindern aus Bullerbü" (1949) und "Immer lustig in Bullerbü" (1952). Lindgrens Bücher wurden rasch in alle Weltsprachen übersetzt, in 86 Sprachen insgesamt. Weltweit konnten mehr als 130 Millionen Exemplare abgesetzt werden, mehr als 25 Millionen allein im deutschsprachigen Raum. Am besten verkaufte sich die "Pippi Langstrumpf"-Trilogie (sechs Millionen), gefolgt von den "Bullerbü"-Romanen (vier Millionen) und den Geschichten vom "Michel aus Lönneberga" (zwei Millionen).

Die kongenialen Verfilmungen trugen viel zu diesem Erfolg bei, vor allem Inger Nilsson in der Rolle der Pippi, und auch die Kinder- und Jugendbuchforschung hatte Anteil an der Kanonisierung dieses gewaltigen Œuvres. Man untersuchte das Verhältnis von Utopie und Wirklichkeit bei Astrid Lindgren, befragte Kinder im Zuge der Rezeptionsforschung und wertete ihre Aussagen tiefenpsychologisch aus, und man ereiferte sich über das 1973 erschienene Buch "Die Brüder Löwenherz", welches von Krankheit, Elend und Tod erzählte, gleichwohl aber von Lindgren als "Trostbuch" für Kinder konzipiert worden war.

Das lange, erfüllte Leben der vielleicht bedeutendsten Kinderbuchautorin überhaupt ging am 28. Januar 2002 zu Ende. 25 Jahre lang war Lindgren Leiterin des Kinderbuchlektorates von Raben & Sjögren. Ihren Mann überlebte sie um 50 Jahre. Seit 1946 lebte sie in derselben Drei-Zimmer-Wohnung in der Dalargatan in Stockholm, seit einigen Jahren fast erblindet und zuletzt auch des Lebens überdrüssig. Ihren Lesern hatte sie das Totenreich Nangijala geschenkt, und dort wird sie wohl auch von den Brüdern Löwenherz erwartet.

Mehr noch als "Pippi Langstrumpf" hat mich "Lotta zieht um" (1961) geprägt, die Geschichte eines kleinen Mädchens, das sich in einer Abstellkammer der Großmutter ein eigenes Zuhause schuf. Dabei war ich mir keineswegs sicher, ob ich diese Bücher, die von einer Frau geschrieben und Mädchen zu Heldinnen hatten, überhaupt lesen und besitzen durfte. Der kreuzbrave und etwas blässliche Thomas, Repräsentant der Gewöhnlichkeit in Lindgrens "Pippi Langstrumpf"-Trilogie, war jedenfalls keine Identifikationsfigur für mich. Lotta schon: Ihre Unabhängigkeit beeindruckte mich, den Eigenbrötler in unserer Familie, der in den Sommerferien den Schuppen der Großmutter aufräumte, um sich dort zum Lesen zurückzuziehen. Lindgren wurde allmählich durch Enid Blyton- und danach durch Karl May-Lektüren ersetzt. Erst Mitte der achtziger Jahre erfuhr ich aus Arno Schmidts "Sitara und der Weg dorthin", dass auch dies der sexuellen Orientierung nicht unbedingt dienlich war. "Lotta zieht um" muss ich mir wieder mal reinziehen.

Titelbild

Astrid Lindgren: Lotta zieht um.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Thyra Dohrenburg.
Oetinger Verlag, Hamburg 1997.
63 Seiten, 9,50 EUR.
ISBN-10: 3789141321

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch