Die Leiden der jungen Grom
Maria Rybakovas romantischer Totenroman "Die Reise der Anna Grom"
Von Mathias Schnitzler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBeide kamen im Alter von etwa zwanzig Jahren aus Moskau nach Deutschland. Beide sind jüdischer Herkunft. Und beide zeichnen in ihren Erstlingswerken Bilder vom Überleben osteuropäischer Emigranten in Berlin, die unterschiedlicher nicht sein könnten. In Wladimir Kaminers "Russendisco" ist das berühmte Glas nie halb leer, sondern immer halb voll. Berlin kommt ihm nach entbehrungsreichen Jahren in der Sowjetunion "wie ein Kurort" vor, und die Vorzüge der freien Marktwirtschaft liegen für ihn auf der Hand. Maria Rybakova hingegen, Studentin der klassischen Philologie und in russischer Sprache schreibend, beschwört in der "Reise der Anna Grom" das Vergangene und die Macht, die es über uns hat.
"In der Liebe", so mutmaßte Walter Benjamin, "suchen die meisten ewige Heimat. Andere, sehr wenige aber, das ewige Reisen." Anna Grom, darin dem berühmtesten Liebesleidenden der Weltliteratur, dem jungen Werther, verwandt, vermag weder in ihrer Welt noch in der Liebe eine Heimat zu finden. Nicht das Liebesunglück, sondern das hoffnungslose Gefühl der Begrenztheit des menschlichen Wesens treibt sie auf die Reise und in den selbst gewählten Tod. Im Schattenreich entdeckt Anna "diese Freiheit, die ich zu erlangen versuchte, indem ich von einem Land ins andere reiste, von einem Menschen zum anderen." Rybakovas Briefroman erinnert in seiner empfindsam-berauschten Schilderung eines Weltverlustes nicht nur formal an Goethes "Werther".
In der "Reise der Anna Grom" geht es um nichts weniger als die größten Themen der Weltliteratur: Liebe und Tod.
Anna, jüdische Emigrantin aus Moskau, hat sich in Berlin unsterblich verliebt. Doch Ulrich Wilamowitz, ein kühler Intellektueller und von Allmachtsphantasien geplagter Altphilologe, interessiert sich kaum für die übersensible und ungeschickte junge Frau. Rybakova hat versucht, ihm die Züge eines Raskolnikov zu verleihen, deshalb wirken seine Reden und Gesten oft seltsam antiquiert und künstlich. Die todunglückliche Anna nimmt sich das Leben und schreibt quicklebendige Briefe aus dem Totenreich. Diese vierzig Briefe, entsprungen aus dem Geist antiker Hadesfahrten und nordischer Unterweltsabenteuer, haben wir nun vor uns liegen.
Das Totenreich präsentiert sich weit schöner und vitaler als das Diesseits. Die Todesreise gerät dabei zur Stifterin von Biographie und Kunst, indem sie Gedächtnis und Phantasie belebt: "Der Tod, der mir alles nahm, gab mir im Gegenzug ein deutliches Erinnerungsvermögen." Erst die Distanz ermöglicht eine sinnhafte Durchdringung der erinnerten Welt, die in der Realität so nicht existiert. "Wenn das Leben doch ein Ring wäre, dann hätte es wenigstens einen Sinn", trauert Anna, doch "das Leben ist ein Fragment."
Erinnerung, Literatur und Liebe entspringen, nach einem Wort Nabokovs, allesamt einer Auflehnung gegen "das Gefängnis der Zeit". In ihnen ist die vorgestellte Welt privilegiert gegenüber der objektiv gegebenen. Annas Suche nach der richtigen Existenzform endet im religiös sublimierten Liebestod, für die junge Frau der einzig verbliebene Weg in die Freiheit.
Der russische Originaltitel lautet korrekt übersetzt "Anna Grom und ihre Erscheinung". Ein Hinweis auf das intellektuelle Spiel, das die Autorin in romantischer Tradition mit dem Leser treibt. Der gesamte Text ist durchzogen von metatextuellen Reflexionen, Traum- und Spiegelmotive verweisen auf das undurchsichtige Verhältnis von Schein und Sein. Doch im letzten Viertel des Romans verspielt Rybakova fast Stimmung und Stimmigkeit ihres Erzählprojekts. In einer aberwitzigen Wendung, mehr sei nicht verraten, wird ein ganz anderer, als schizophren apostrophierter Absender der Briefe eingeführt. Und als hätten wir es geahnt: der klassische Philologe Ulrich von Wilamowitz, Annas große Liebe, hat tatsächlich gelebt, allerdings von 1848 bis 1931.
Damit aber nicht genug: Wenige Seiten vor Ende des Buches zaubert Rybakova, offensichtlich beeindruckt von Schlinks Welterfolg "Der Vorleser", eine abstruse Geschichte um den Holocaust und die moralische Erbschuld aus dem Hut, in deren Mittelpunkt Reinhard Heydrich steht. Heydrich, der laut Rybakova "einzig schöne Nazi", war neben Himmler der wichtigste SS-Führer des Dritten Reiches und maßgeblich an der Organisation der Massendeportationen jüdischer Bürger beteiligt. Dieser Mann, der die Wannseekonferenz leitete, auf der die Maßnahmen für die so genannte "Endlösung der Judenfrage" erörtert wurden, entpuppt sich als möglicher Großvater von Ulrich. Und nun begreifen wir auch dessen merkwürdige Gespaltenheit: Fasziniert und abgestoßen zugleich von der Gestalt der "blonden Bestie", verdecken seine zweifelhaften Auserwähltheitstheorien nur die eigenen Schuldgefühle.
Oder hat Ulrich diese Geschichte bloß erfunden, wie er selbst einwirft? Waren alles nur Hirngespinste? Ein wenig ratlos, verwirrter vielleicht als von der Autorin beabsichtigt, stehen wir nach Lektüre eines Buches, das über weite Strecken so traurig-schön und fast religiös von Liebe und Tod, von Sehnsucht und Erinnerung erzählt.
Dennoch lohnt sich die Lektüre, denn ganz nebenbei ist Rybakova mit der "Reise der Anna Grom" eine kritische Ansicht auf die Berliner Republik geglückt, ohne moralisch-pädagogischen Appell. Die humorvoll in Szene gesetzten Versuche der jungen Emigrantin, in Berlin Wohnung, Arbeit und soziale Kontakte zu finden, gehören zu den gelungensten Passagen des Buches. "Arbeitslose Schlampe, Ausländerin noch dazu" beschreibt Anna sich ganz unironisch selbst, sie hat die Vorurteile ihrer deutschen Mitbürger verinnerlicht. Kaminer und seine trotzigen Anti-Helden haben den Strom zum Mitschwimmen in der Marktgesellschaft gefunden. Maria Rybakova hingegen zieht es in mythische Tiefen.