Stettiner Vorgeburt, Berliner Nachgeburt

Alfred Döblins Selbstvorstellung von 1928 in einer Neuausgabe

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum 50. Geburtstag Alfred Döblins im Jahre 1928 wünschte sich der S. Fischer Verlag eine "Selbstvorstellung"seines Autors. Heraus kam der kunstvoll gebaute, halb fiktive autobiographische Text "Alfred Döblin im Buch - zuHaus - auf der Straße", vorgestellt von Alfred Döblin und Oskar Loerke. Der Schriftsteller und Fischer-Lektor Oskar Loerke hatte den literarischen Weg Döblins seit 1916 als Kritiker begleitet und enthusiastisch kommentiert, war seit1917 Verlagslektor und somit der ideale Partner für die gemeinsame Arbeit an der Geburtstagsschrift.

Im ersten Teil des Buches stellt Alfred Döblin sich und seine Familie vor: 1878 sei er in Stettin nur "vorgeboren"worden, doch die eigentliche Geburt sei zehn Jahre später in Berlin erfolgt. Eindrucksvoll schon die Ankunft in der nächtlich erleuchteten Stadt: "Ich saß in Geburtswehen. Mir wurde bänglich und immer bänglicher. Es betraf meinen Bauch. Die Wehen nahmen an Heftigkeit zu. Und als wir uns den Häusern Berlins näherten, war ich am Ende meiner Kraft. Ich stand am Fenster, es war finster, spät abends, ich gab nach. Das Kind war da, es lief in meine Hose, mir wurde wohler, ich stand in einer Pfütze. Dann setzte ich mich beruhigt."

Die künstlerische Ader führt er auf den Vater zurück. Max Döblin wird in drei Durchgängen vorgestellt. In allen drei Versionen ist er unglücklich verheiratet mit Sophie, der Mutter seiner fünf Kinder, und flieht vor der Prosa des Alltags von Berlin via Hamburg nach New York. Dort verlebt er mit seiner Freundin, der jugendlichen Henriette Hecht, glückliche Tage, bis das Ersparte durchgebracht ist. Die Mutter, Sophie Döblin, wird als harte Frau geschildert: Für ihren Mann hatte sie weder Respekt noch Verständnis; sie hat ihn quasi zur Desertion getrieben. Ihr Bildungsniveau war nicht sehr hoch, die schönen Künste galten ihr nichts. Noch als praktizierender Arzt hat Alfred Döblin seine Schriftstellerei vor ihr zu verbergen gesucht. Als dies nicht mehr gelingen konnte, war sie nur durch die Versicherung zu beruhigen, dass er damit Geld verdiene. Im Alter litt sie an der Schüttellähmung und starb einen qualvollen Tod. Döblins Schwester Meta war ein frühes Opfer der Novemberrevolution von 1919. Sie starb an inneren Blutungen - ein Querschläger hatte sie erwischt, als sie für ihre kleinen Kinder Milch holen wollte.

Mit wenigen Strichen entwirft Alfred Döblin eindrucks-, häufig kummervolle Porträts seiner Anverwandten. Sich selbst taxiert er wie ein Arzt seinen Patienten: "Er ist 160 Zentimeter groß. Nacktgewicht 114 Pfund; Brustumfang, Einatmung: 92 cm, Ausatmung: 86 cm; Kopfmaße: Umfang 58,5 cm, Längsdurchmesser 22 cm, Querdurchmesser 16 cm. Er ist hereditär stark kurzsichtig und astigmatisch." Seine schulische Laufbahn wird im Klassenbuch-Stil dargestellt, die Lehrer werden - einer fiktiven Standpauke ähnlich -für ihr Versagen nachträglich gemaßregelt; das Kollegium gleicht einem Pandämonium unfähiger "Bösewichte", vom Schulsystem erzeugt oder begünstigt.

Der gekonnte Registerwechsel, der hier für jede Lebensstation eine neue Erzählweise findet, zeigt in nuce schon den ganzen Döblin, der 1928 freilich erst erahnt werden kann. Denn "Berlin Alexanderplatz" ist noch nicht erschienen, an die südamerikanisch-farbige "Amazonas"-Trilogie ist noch nicht zu denken, die monumentale "November 1918"-Tetralogie steht noch aus, die "Schicksalsreise", eine der drei autobiographischen Hauptschriften Döblins, muss erst noch fortgesetzt und fortgeschrieben werden, es fehlen die großen programmatischen Essays der mittleren und späten Jahre, die Religionsgespräche und die Dialoge zwischen Literatur, Kunst und Politik. Gleichwohl ist Döblins Vielseitigkeit bereits erkennbar und wird von Oskar Loerke - im zweiten Teil des Buches - auch erkannt.

Döblins Größe sei es, so Loerke, "für das Maßlose das Maß zu suchen", zu gleichen Teilen die Prinzipien der Strenge und der Fülle zu verkörpern.

Titelbild

Alfred Döblin: Im Buch - Zu Haus - Auf der Straße.
Vorgestellt von Alfred Döblin und Oskar Loerke. Mit einer Nachbemerkung von Jochen Meyer.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach 2000.
212 Seiten, 15,34 EUR.
ISBN-10: 3929146908

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