Geduld wird euch klug machen

Baltasar Graciáns tausendseitiger Lebensratgeber "Das Kritikon"

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir schreiben das Jahr 1621. Ein über Bord geworfener Mann namens Critilo treibt an eine Planke geklammert im Südatlantik. An das Ufer einer Insel gespült, wird er von einem verwilderten Menschen ohne Sprache gerettet. Zum Dank lehrt Critilo den jungen Wilden sprechen und gibt ihm "Kunde von der Welt insgesamt". Zusammen verlassen sie die Insel auf einem zufällig vorbeisegelnden Schiff, das sie nach Europa mitnimmt. Anschließend reisen die beiden auf der Suche nach der verschollenen Verlobten Critilos durch Spanien, Frankreich, Deutschland und Italien. Es ist eine Reise der Belehrung und Enttäuschung. Sie sind "viel herum, aber wenig vorangekommen", heißt es gegen Ende des Romans, wenn der Leser schon über 800 Seiten mit den beiden unterwegs war. Critilo belehrt seinen jungen Schüler, den er Andrenio getauft hat, über die verschiedenen Stände, Berufe und Menschenarten; er lehrt ihn die Falschheit der Menschen überhaupt und der Frauen insbesondere ("Weib ohne Trug ist wie Henkel ohne Krug") durchschauen; er bringt ihm ein weltmännisches Geschick bei, ohne das angesichts all der Dummheit in der Welt ("Dumm sind alle, die so aussehen, und die Hälfte derer, die nicht so aussehen") nicht mit Ruhm und Ehre zu bestehen wäre. Wie sich unterwegs herausstellt, ist die verschollene Felisinda die Mutter des Andrenio, Critilo mithin sein Vater. Aber zur Vereinigung der Familie kommt es auch am Ende des Romans nicht. In Rom stellt sich heraus, dass Felisinda im Himmel ist, Critilos und Andrenios Suche also in gewisser Weise umsonst war. Zusammen begeben sie sich auf die Insel der Unsterblichkeit:

"Was sie dort zu Gesichte bekamen, welche Genüsse sie dort erwarteten, wer das wissen und erfahren möchte, der gehe selbst Richtung Tugend und Vortrefflichkeit, Richtung Tapferkeit und Heldentum, und er wird am Ende zum Schauplatz der Fama gelangen, zum Thron der Hochschätzung und mitten hinein ins immer währende Leben."

So endet dieser Roman, der natürlich kein Abenteuerroman ist, sondern eine Art Inventur gesellschaftlichen Lebens in der Welt des mittleren 17. Jahrhunderts. 1651 erschien der erste Teil ("im Frühling der Kindheit und im Sommer der Jugend"), 1653 der zweite Teil ("gedankenreiche Weltenhofbetrachtung im Herbst des Mannesalters"), 1657 schließlich der dritte und letzte Teil ("im Winter des Alters") dieser Lebensreise des Andrenio, das heißt des Mannes schlechthin, der geleitet von kritischer Vernunft (Critilo) auf der Suche nach dem Glück (Felisinda) ist.

"Das Kritikon" ist das dichterische Hauptwerk des unbotmäßigen Jesuitenpaters Baltasar Gracián (1601-1658). Er habe mit diesem Werk danach getrachtet, "die trockene Philosophie mit dem unterhaltsamen Einfall zu vermählen, die beißende Satire mit der eingängigen Erzählung". Ist es ihm gelungen?

Zum ersten Mal seit rund 350 Jahren haben deutschsprachige Leser, die des Spanischen nicht mächtig sind, Gelegenheit, sich darüber ein eigenes Urteil zu bilden. Zwar gab es schon früher Versuche, den "Criticón" ins Deutsche zu übertragen: Die beiden Übersetzungen des 18. Jahrhunderts beruhten aber auf französischen Versionen, boten also Text aus dritter Hand. Im 19. Jahrhundert hatte Schopenhauer den Plan einer Gesamtübersetzung, die aber damals niemand haben wollte. Im 20. Jahrhundert schließlich gab es nur eine Auswahl für ungeduldige Leser. Hartmut Köhlers hilfreich kommentierte und uneingeschränkt zu lobende Übersetzung bringt erstmals das Ganze.

Dieses Ganze ist befremdlich, und zwar nicht, weil wir heute kaum noch gewöhnt sind, dass jemand die Welt in ihrer Totalität mit einem philosophischen Roman in den Blick nimmt, sondern weil Gracián als Meister des sogenannten Konzeptismus es den Lesern nicht leicht macht. Er verlangt Mitarbeit des Lesers. Die Worte sollen den Gedanken nicht einfach spiegeln, ihn vielmehr hervorbringen, während man sie liest. Bei der Entwicklung des Gedankens fungiert der Leser als Widerpart. Doch neben der kunstvollen und kein Wortspiel verschmähenden Verdichtung der Formulierung bleibt Raum für den niederen Stil des Alltags, besonders in den witzigen Episoden des Romans. Wer sich auf den Roman einlässt, der wird ein seltenes Vergnügen finden; vor oberflächlichem Querlesen dagegen sei gewarnt: Das macht keinen Spaß.

Eine nicht leicht zu überwindende Schwierigkeit des Romans besteht in seiner allegorischen Denk- und Schreibweise. Hier wird keine realistische Geschichte erzählt, sondern Philosophie in sinnbildliche Geschichten übersetzt. Die sind aber mitunter satirisch so scharf und so grotesk ausgemalt, dass noch diejenigen sich unterhalten fühlen werden, die mit Graciáns pragmatischer Philosophie insgesamt vielleicht wenig anzufangen wissen.

Doch ist seine Weltanschauung weniger fremd, als ihr Ausdruck es auf den ersten Blick vermuten lässt. Gracián hatte zu Lebzeiten Ärger mit seinen Vorgesetzten, weil er zu wenig predigte, zu wenig theologisch argumentierte. Vielmehr vermittelte er in seinen Schriften Ratschläge einer weltlichen Klugheitslehre, die ihm im späten 17. Jahrhundert europaweit Bewunderung eintrug, und zwar bei freien Geistern ebenso wie bei Protestanten und Katholiken.

Gracián war ein klassischer Moralist: Den Finger legte er auf die Fehler der Welt und der Menschen, ohne dogmatisch zu werden. Die Welt, wie sie ist, ist schlecht, doch wollen und müssen wir in ihr bestehen, denn wir haben nur diese eine und nur ein Leben. Am besten bestehen wir, wenn wir uns völlig ent-täuschen. Wer im Wahn befangen bleibt, wird unglücklich. Wer aber die Täuschungen hinter sich lässt, kann zur Tragikomödie des Universums ein gelassenes Verhältnis finden. Desillusion und Skepsis grundieren Graciáns Weltsicht, aber beides wird zur Voraussetzung irdischer Zufriedenheit. Wer sich keine Illusionen, weder über die Welt noch über sich selbst macht, kann souverän handeln und leben.

Souveränität in jeder Hinsicht ist bei Gracián ein Lebensziel. Sie gibt Freiheit. Souveränität meint in erster Linie Selbstbeherrschung. Sie fällt aber Niemandem in den Schoß. Sie erfordert lebenslange Anstrengungen. Nicht nur gilt es jede Ausschweifung in Extreme - eine Neigung, die den Menschen wesentlich eigen sei - zu vermeiden, sondern auch den eigenen Scharfsinn durch beständiges Lernen zu bilden. Scharfer Verstand verbunden mit gutem Geschmack und Tugendhaftigkeit verleihen der einzelnen Persönlichkeit majestätische Würde. "Mittelmaß ist unerwünscht. Hier gilt nur Höchstes!"

Wenn man die Anstrengung der Lektüre - und es ist eine Anstrengung - auf sich nimmt, belohnt einen auch dieser Roman mit einer schier unendlichen Menge vortrefflicher Maximen der Lebensklugheit, deren Wahrheit heute noch immer so einleuchtend erscheint wie vor 350 Jahren. (Kondensierter hat man sie freilich im berühmteren "Oráculo manual y arte de prudencia", dem "Handorakel" in Form von dreihundert Maximen zur "Kunst der Weltklugheit", in Schopenhauers Übersetzung seit 1862 unter den Deutschen.) Nicht etwa, weil Gracián zeitlos gültige Wahrheiten zu bieten hätte, sondern weil das 17. Jahrhundert dem vorurteilsfreien Blick als eine Epoche erscheinen mag, die in vielerlei Dingen verblüffende Ähnlichkeit mit der Jetztzeit hat. Es ist vor allem der verloren gegangene Glauben an den unaufhaltsamen Fortschritt der Geschichte, der heute wieder ähnliche Denkfiguren hervorbringt wie im 17. Jahrhundert. "Wir sind schon am Ende der Zeiten", schrieb Gracián in einem anderen Buch; verdammt zu "wiederholen", gelte es vor allem "richtig zu wählen". Eine schwierige Aufgabe in einer Welt, wo "nichts Bestand hat" und alles "ein Auf und Nieder" ist, so dass man nicht mehr so genau weiß, was wahr ist und was nicht.

Als Critilo und Andrenio nach Italien kommen, in die übervölkerte Heimat des Scharfsinns und der Erkenntnis einerseits, der Despotie und des Aberglaubens andererseits, kommen ihnen Fliehende entgegen. "Lauft weg!" wird ihnen zugerufen. "Wisst ihr wahrhaftig nicht, dass dieser Tage die Wahrheit in Kindsnöten ist?" Na und? wundern sich die beiden, doch: "Wenn es heute schon niemanden mehr gibt, der mit der einen Wahrheit leben und sie ertragen kann, wie wird es erst sein, wenn diese anfängt, andere zu gebären, und diese wieder andere, und jede noch neue Wahrheiten gebiert? [...] Mit einer Wahrheit, die man ihm sagt, kann ein Mensch genug haben fürs Leben: Wie wird es sein mit so vielen?"

So viele Wahrheiten birgt dieser übrigens in buchkünstlerischer Hinsicht hervorragend ausgestattete Band, dass man dankbar ist für die ausführliche Inhaltsübersicht und das Personen- und Sachregister. Auf diese Art hat man die Chance, die eine oder andere Wahrheit, deren Ort man nach der Lektüre von fast tausend Seiten nur noch vage erinnert, in diesem enzyklopädischen Kompendium wieder zu finden.

Titelbild

Baltasar Gracian: Das Kritikon. Roman. Aus dem Spanischen übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler. Mit einem Nachwort von Hans-Rüdiger Schwab.
Ammann Verlag, Zürich 2001.
1014 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 325010437X

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