Kein Placebo

Micha Hilgers wirft einen (psycho-)analytischen Blick auf Liebesfreud und Liebesleid

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das weite Feld der Psychoanalyse reicht von den Sümpfen bis ins Gebirge, oder, weniger bildhaft formuliert, von Scharlatanerie bis zu echten Erkenntnisangeboten. In ihrer primitivsten Form ist die Psychoanalyse (die diesen Namen dann nicht mehr verdient) mit der Astrologie verwandt; nur wer glaubt, kann selig werden. Gegen Worthülsen mit Placebo-Effekt (und teilweise schädlichen Nebenwirkungen) setzen Experten Verständnis und Aufklärung. Nur wer dazu bereit ist, über sich selbst und sein Verhältnis zu anderen zu reflektieren und dabei zu eigenen Ergebnissen zu kommen, wird etwas lernen, das er gebrauchen kann.

Das Buch des renommierten Diplom-Psychologen Micha Hilgers ist die Zusammenstellung einer Serie von Zeitungsartikeln, die mit einfachen Worten komplizierte Zusammenhänge erklären. Das Thema Liebe wird in seinen verschiedensten Aspekten entfaltet. Nicht nur mit Sachlichkeit und Prägnanz weiß Hilgers zu formulieren, seine Sprache ist auch außerordentlich bilderreich, ohne dadurch an wissenschaftlicher Qualität zu verlieren. Manche Sätze sind auf spielerische Weise barock: "Für den verwaisten Altar der Utopie findet die Verliebtheit die Ikone der Anbetung." Andere wirken wie gemeißelt: "Die Verliebtheit ist die Revolution der Seele gegen die Diktatur der Gewohnheit und Mittelmäßigkeit." Oder: "Fanatiker sind die Zyniker der Relativität und des Humanismus."

Mit diesen Sätzen sind wir bereits mitten im Thema. Hilgers redet nicht einer postmodernen Beliebigkeit oder einem verantwortungslosen Hedonismus das Wort, er stellt vielmehr dar, dass erfolgreiche dauerhafte Beziehungen nur möglich sind, wenn die Verliebtheit nicht ganz abklingt und sich der Reiz gegen die Gewohnheit behaupten kann. Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass der Abbruch von Beziehungen zu verurteilen wäre. Verantwortungsbewusstsein bedeutet keineswegs, dass man nicht einen Schrecken ohne Ende einem Ende mit Schrecken vorziehen sollte.

Hilgers bleibt seinem Toleranzgebot treu, wenn er sich verschiedenen, immer wieder diskutierten Spielarten der Liebe widmet. Große Altersunterschiede müssen nicht grundsätzlich ein Nachteil sein; es kommt darauf an, wie man damit umgeht. Eine Grenze zieht Hilgers bei Seitensprüngen, die er für desaströs hält, weil sie das Vertrauen zwischen den Partnern zerstören und somit eine Beziehung in ihren Grundfesten erschüttern. Er hat keine Lösung, aber einen Vorschlag parat: "Der bewußte, nicht moralingesteuerte Verzicht kann, wenn das Verlangen immer wieder neu in den verbalen und sexuellen Dialog des Paars eingebracht wird, die Beziehung dauerhaft lebendig halten."

Den "unbedingten Wunsch nach Nachwuchs" enttarnt Hilgers als selbstbezüglich; es gehe nicht um das Wohl von Kindern, sondern allein um die Befindlichkeit der potenziellen Eltern und um die wirtschaftlichen Interessen einer aufstrebenden Industrie. Aus dieser Perspektive steht er den über medikamentöse Behandlungen hinausgehenden Versuchen künstlicher Befruchtung skeptisch bis ablehnend gegenüber. Wenn es mit dem Kinderwunsch geklappt hat, dann ist es wieder der bewusste Umgang mit Partner und Nachwuchs, der über den Erfolg des eigenen Familienunternehmens entscheidet. Die Zauberformel für alle zwischenmenschlichen Beziehungen lautet "Empathie": "Der Wechsel in die Welt des Gegenübers ist daher wie eine Reise an einen anderen, manchmal fremden Ort, von dem man bereichert und verändert zurückkehrt."

Hier deutet sich bereits an, dass der Autor kein Prediger allumfassender Harmonie ist, ganz im Gegenteil. Wenn es um die Belange der Familie geht, wird aus Hilgers ein streitbarer Krieger, der mit eingelegter Lanze gegen die bundesdeutsche Politik zu Felde zieht. Öffentliche Kritik an "ignoranten Eltern" und "faulen Lehrern" soll nur von den eigentlichen Problemen ablenken: "Wer Flexibilität bei Jobsuche und Berufsausübung, bei Überstunden und beruflicher Weiterbildung fordert, muß sich nicht wundern, wenn Papa und Mama mehr in Stau oder Streß stecken, als in heimelige Kindererziehung. [...] Eine sich verändernde Gesellschaft, die von ihren Mitgliedern die Preisgabe herkömmlicher Rollen in Partnerschaft und Erziehung verlangt, kann nicht gleichzeitig mit Krokodilstränen die Folgen bejammern und den nolens volens folgsamen Eltern Versagen bei traditionellen Aufgaben unter die Nase halten." Für viele Eltern gebe es nur eine Wahl zwischen "Verarmung" und Vernachlässigung der Kinder. Hilgers fordert ein Ende der "Allverfügbarkeit des Arbeitsmenschen", dem nur durch geänderte Betreuungsangebote und an den Bedürfnissen der Arbeitnehmer orientierte Arbeitsmodelle zu steuern ist.

Das ist nicht das einzige Feld, auf dem für Hilgers Handlungsbedarf besteht. Einerseits sei "von unbefriedigender oder seltener Sexualität der Paare oder Singles" die Rede, andererseits werden durch Medienangebote "weite Bereiche gesellschaftlichen Lebens sexualisiert". Diese öffentliche "Preisgabe gemeinsamer Intimität" bedroht das, was Paarbeziehungen im innersten zusammenhält. Neben die Verantwortlichkeit der Gesellschaft tritt die des Individuums, denn: "Entscheidend ist der Umgang mit Pornographie und die Funktion, die sie für den Konsumenten hat." Dies ist abermals ein Beispiel dafür, dass es Hilgers nicht um Schuldzuweisungen, sondern um sachgerechte Beurteilung gesellschaftlich relevanter Bereiche des Liebes-Diskurses geht. Immerhin lässt sich schlussfolgern, dass ungebremste wirtschaftliche und technologische Entwicklungen Störfaktoren sind, die in Einzelfällen zu Perversionen führen können. Der Begriff wird dabei nicht an Praktiken, sondern an Einstellungen gebunden. Für Hilgers liegt dann eine Perversion vor, wenn das Gegenüber nicht mehr "als Person mit eigenen Bedürfnissen", sondern "lediglich als Objekt" wahrgenommen wird. Das gilt analog für Gruppen, die sich voneinander abgrenzen, wobei die größten wohl durch Landesgrenzen zu markieren sind. Nationalstolz wird von Hilgers als richtig und wichtig zur Identitätsbildung eingestuft, sofern der Stolz nicht zur Selbstüberhebung, zur Abwertung des Anderen führt.

Am Ende steht die Hoffnung. Hilgers betont die Notwendigkeit von Utopien, die allein helfen können, alltägliche Enttäuschungen zu verarbeiten. Damit sind nicht nur hehre Ziele gemeint; im Alltag beginnt die Kraft der Utopie schon beim Hören von Musik ( und auch hier ist Toleranz angesagt: "Nicht jeder muß sich bei Schuberts Impromptus sammeln, und wer dies bei Techno-Klängen tut, zeigt lediglich, daß seine Ideale andere Formen angenommen haben als die seiner Altvorderen." Folgender Satz illustriert die Leidenschaft hinter der Fachkompetenz, wobei man sich fragen sollte, ob Hilgers mit dem gewählten Vergleich nicht über das Ziel hinausschießt und sich auf die Ebene von ihm gebrandmarkter 'totalitärer' Argumentation herab begibt: "Der weitgehende Verzicht auf politische Utopien durch die etablierten Parteien und die Verächtlichmachung von Zukunftsentwürfen ( wie beispielsweise immer wieder von Gerhard Schröder praktiziert ( ist viel mehr Ausdruck von Werteverlust als das Bestehen rechter Gewalttäter auf ihren verquasten Gerechtigkeitsvorstellungen." Nicht im Ton, aber in der Sache dürfte dies wohl zutreffen.

Dieses schmale, überaus verständliche Buch enthält mehr Nachdenkenswertes als manch umfangreiche wissenschaftliche Studie. Nur für Insassen von Elfenbeintürmen und für Placebo-Süchtige, die lieber andere für sich denken lassen, dürfte sie weniger empfehlenswert sein.

Titelbild

Micha Hilgers: Leidenschaft, Lust und Liebe. Psychoanalytische Ausflüge zu Minne und Mißklang.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001.
143 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 352501466X

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