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Leibarzt Schur über Patient Freud

Von Andrea ZenzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Zenzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Leibärzte über ihre illustren Patienten schreiben, so ist das Ergebnis nicht selten eine Aneinanderreihung von Pseudo-Intimitäten und dem - mal mehr, mal minder profanen - Versuch, Krankheitsgeschichte für Biografieforschung nutzbar zu machen.

Max Schur war der Leibarzt Sigmund Freuds. Er veröffentlichte 1972 seine Freud- Biographie "Freud: Living and Dying", die mittlerweile als Taschenbuch neu aufgelegt wurde. Jedoch ist die Bezeichnung "Biographie" für die 680 Druckseiten umfassende Arbeit Schurs nicht passgenau. Schur will nicht das Leben Freuds nachzeichnen (und tut dies auch nicht). Vielmehr untersucht er den Wandel von Freuds Einstellung zu Krankheit, Tod und Sterben entlang dreier ausgesuchter Lebensabschnitte. Es sind dies Abschnitte, die eng mit Freuds wissenschaftlicher Laufbahn verknüpft sind: Freuds Zeit als junger Arzt mit (heute würde man sagen: interdisziplinärem) Ideenreichtum, Freuds Kampf um Anerkennung seiner Psychoanalyse als Wissenschaft und zuletzt seine - von der Krebskrankheit bestimmten - Jahre im Alter, in denen Freud bemüht war, sein wissenschaftliches Werk zu überarbeiten und zusammenzufassen.

Schurs Quellenmaterial sind Korrespondenzen (speziell die mit Wilhelm Fließ), medizinische Dossiers, die Schur über seinen Patienten im Laufe der Zeit angelegt und gesammelt hat, sowie Episoden aus persönlichen Kontakten. Schur deutet diese Quellen vorsichtig, besonders seine Krankenakten und Erlebnisse fast behutsam. Denn es ist nicht sein Anspruch - in Ergänzung und Abgrenzung zu vorherigen Biographien etwa -, ein weiteres Bild des Schöpfers der Psychoanalyse zu zeichnen. Stattdessen wirkt seine Arbeit wie eine Auseinandersetzung mit einem für Schur bedeutungsvollen Menschen. Dabei stöbert Schur minutiös in seinem Quellenmaterial, ordnet dieses Material - bis in Verästelungen hinein - zu einer sinnvollen Rekonstruktion von Freuds wechselnden Einstellungen zu Krankheit und Tod.

So präzise und bisweilen pedantisch Schur vorgeht, so sehr er nicht auf scheinbare Nebensächlichkeiten bei seiner Rekonstruktionsarbeit verzichten mag und dabei Gefahr läuft, den Leser zu verlieren, so wohltuend anders ist doch seine Betrachtung Freuds in ihrer Gänze. Schur verweigert sich den Grabenkämpfen des psychoanalytischen Diskurses und bleibt - selbst da, wo es sich angeboten hätte, etwa in der Auseinandersetzung zwischen Freud, Adler und Jung - stets bei seinem Untersuchungsgegenstand: bei Freud und seinem Krankheits- und Todesverständnis. Ohne tiefenpsychologische Diskurse auszublenden und mit ebenso eindeutigen Positionierungen, geht es ihm doch zu allererst um die Innenwelt Freuds. Hier wirkt Schur kompromisslos.

Ebenso kompromisslos ist sein methodisches Vorgehen: Nicht nur bietet es sich an, es ist fast schon obligatorisch geworden, den Schöpfer der Psychoanalyse - so man von ihm spricht oder schreibt - nach dem von ihm erdachten System und dessen Kategorien zu analysieren. Obwohl diese Behandlung Freuds in diesem Fall sogar - bei Großmütigkeit der Rezensentin - ihre Berechtigung in der Tatsache fände, dass Freud nunmal Schurs Patient war, betreibt doch letzterer in seiner Arbeit kein billiges Katalogisieren nach psychoanalytischen Begrifflichkeiten und geht doch gleichwohl psychoanalytisch vor. Schur übernimmt nicht Katgeorieversatzstücke aus Freuds Wissenschaft, sondern ihre Praxis: die kritische Hermeneutik, das radikale Verstehen-Wollen des Anderen.

Wenn auch um den Preis der Kurzweil, so ist Schurs Freud-Biographie eine Ausnahme. Seine Verbindungen von Krankengeschichte zu biographischer Entwicklung sind wohlüberlegt. Nie verliert er - zumindest unnötig lang - den Bezug zu seiner Fragestellung. Auch nicht geht es Schur darum, sich als Intimus zu inszenieren. Wenn überhaupt ist Schurs Ansinnen - über die manifeste Fragestellung hinaus - die Rekonstruktion einer Beziehung, die ihren Anfang nahm, als Schur seinem Dozenten Freud sein Studienbuch zur Unterschrift vorlegte und, beinahe in Verkehrung der Rollen, am Sterbebett dieses Dozenten endet, mit dem ehemaligen Schüler als Leibarzt.

Titelbild

Max Schur: Sigmund Freud. Leben und Sterben.
Übersetzt aus dem Englischen von Gert Müller.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
702 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3518372785

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