Anregend, aber ungenau
Nike Wagners Essay-Band "Traumtheater. Szenarien der Moderne"
Von Alexandra Pontzen
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Wer mit Theater, Literatur, Musik, Kulturgeschichte zu tun hat, wird sich irgendwann seine Wunschbühne, sein Traumtheater, zurechtzimmern, den Raum, in dem die Gegenstände seines Interesses, wie heterogen auch immer, nebeneinander existieren und einander anstecken, assoziativ berühren." Dieser Eingangssatz erläutert den Obertitel des Buchs und charakterisiert die dezidiert unmethodische Konzeption: Verschiedenartiges wird assoziativ verknüpft, wobei die so hergestellten Zusammenhänge "die inhaltliche Offenheit des Sujets" spiegeln sollen. Enge Grenzen werden auch durch den Untertitel nicht gezogen; denn längst ist der Begriff "Moderne" durch ebenso unterschiedlichen wie inflationären Gebrauch unscharf geworden. Die Verfasserin denkt in erster Linie an den geistesgeschichtlichen Umbruch im Wien der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert und seine Folgen. Aber schon Richard Wagner ist für sie ein "Konstrukteur der Moderne"; und da der Band einen Essay über George Sand enthält, wird diese vielleicht auch dazu gerechnet.
Drei Zwischentitel setzen die Theatermetapher des Buchtitels fort: "Kulisse Wien", "Drama Liebe", "Fundus Bayreuth". Der erste Teil enthält Aufsätze über den Historismus der Ringstraßenarchitektur, über Theodor Herzl, über Karl Kraus, über die Wiener Literatur in ihren Zusammenhängen mit Freuds Psychoanalyse und über Richard Strauss. Unter dem Stichwort "Drama Liebe" sind Studien vereinigt über George Sands Roman "Lélia", über Liebesverhältnisse zwischen Aristokratinnen und Künstlern, über Hofmannsthals "Rosenkavalier" und Schnitzlers "Casanovas Heimfahrt", über Wedekinds "Lulu" und Nabokovs "Lolita" sowie über Schönbergs "Erwartung", Schoecks "Penthesilea" und Kurtágs "Botschaften der entschlafenen Trusova". Im Mittelpunkt des "Fundus Bayreuth" steht natürlich Wagner; behandelt werden der dritte Aufzug von "Tristan und Isolde", Thomas Manns Wagnerismus, Winifred Wagners Verhältnis zu Hitler sowie Wagners Nachleben bis heute. Solche Spannweite muss beeindrucken; hier schreibt keine auf ein Fachgebiet eingeschworene Spezialistin, vielmehr eine Kulturwissenschaftlerin von umfassender Bildung und ungewöhnlicher Aufgeschlossenheit. Die Kehrseite der Vielfalt ist der Mangel an Kohärenz. Die Beiträge sind in den letzten zwei Jahrzehnten unabhängig voneinander entstanden, und die Hälfte von ihnen war bereits veröffentlicht. Zur systematischen Lektüre also muss sich der Leser nicht genötigt fühlen, er darf auswählen. Ihm seien die Aufsätze empfohlen, die sich auf eine Person konzentrieren und die meist substantieller sind als die ehrgeizigen Synthesen.
So legt z. B. der Essay über Theodor Herzl überzeugend dar, in wie starkem Maße seine Utopie von der zukünftigen jüdischen Heimat dem Ort verpflichtet ist, der ihn geistig und sozial geprägt hat, dem liberalen bürgerlichen Wien vor dem Erstarken des Antisemitismus. Seine kulturzionistischen Kritiker hätten gewittert, dass er der Idee nach ein vom Antisemitismus befreites Wien angestrebt habe und kein authentisch jüdisches Jerusalem. Gleichermaßen pointiert auf den Punkt gebracht wird der künstlerische Impetus seiner politischen Aktionen: "Nur der westliche Träumer und Künstler konnte die versteinerten Begriffe von politischen Realitäten ins Fließen bringen. Ihn wiederum, den Mann der Literatur, konnte nur ein Zion als Künstlertraum, Zion als Metapher, ein in die Sphäre der Politik projiziertes Burgtheater, handlungsfähig machen."
Ebenfalls lesenswert ist der Essay über George Sand, deren Roman "Lélia" Zuverlässigeres über die Psyche der Autorin aussage, insbesondere über ihre ambivalente sexuelle Disposition, als autobiographische Schriften und Korrespondenzen es könnten. Hier wie auch anderswo scheint es der Verfasserin selbstverständlich zu sein, dass über die Werke ein Weg zu deren Autoren führt und dass dieser Weg eingeschlagen werden sollte. Deswegen die ausführliche Berücksichtigung der Biographie. Die Kunde vom "Tod des Autors" ist entweder noch nicht zu ihr gedrungen oder wird ignoriert. Letzteres wäre gar nicht einmal unsympathisch angesichts der Verklausulierungen, zu denen sich die theoriebewusste Literaturwissenschaft oft gezwungen sieht, um den Autor zu umgehen. Für die Verfasserin jedenfalls scheint der Autor eine unverzichtbare literaturkritische Kategorie zu sein. So ist sie z. B. davon überzeugt, dass der alternde Arthur Schnitzler in "Casanovas Heimfahrt" die Literatur als "Medium seiner Selbstdarstellung" nutzt; und diese Überzeugung ist zumindest nicht abwegig.
Manchmal jedoch wird die Verbindung zwischen Autor und Werk allzu unreflektiert hergestellt. Dass man sich an die Autoren halten müsse, um die in Wedekinds "Lulu" und Nabokovs "Lolita" vorgeführten Weiblichkeitsentwürfe zu verstehen, ist eine fragwürdige Forderung, und die Gleichsetzung von Humbert Humbert, dem männlichen Protagonisten in "Lolita", mit dem Autor Nabokov befremdet und zeugt von geringem Ironieverständnis. Ohnehin ist der Roman ungenau gelesen worden: Lolita heiratet einen mittellosen, intellektuell unbedarften Mechaniker; der raffinierte Verfolger jedoch, der erfolgreiche, zum Sadismus tendierende Dramatiker Clare Quilty ist als Ehemann schlichtweg unvorstellbar. Dass diese bemerkenswerte Figur so gut wie unerwähnt bleibt, zeigt, dass das kunstvolle Beziehungsgeflecht des Romans nicht erkannt worden ist, ganz abgesehen davon, dass sie in einem Aufsatz über "Männerpassionen" Berücksichtigung verdient hätte. Auch sonst machen sich in diesem Aufsatz Flüchtigkeit und Mangel an Plausibilität störend bemerkbar. Das "Lolita-Syndrom, das immer in Gang kommt, wenn ein älterer Herr aus besten [!] Kreisen auf ein verführerisches kleines Luder trifft", werde nicht nur in Heinrich Manns "Professor Unrat" und G. B. Shaws "Pygmalion" variiert, sondern auch in Max Frischs "Montauk". Soll die berufstätige Amerikanerin Lynn (31 J., geschieden), die Ehefrau Marianne (35 J.) oder gar Ingeborg Bachmann das Luder à la Lolita sein? Es ist nicht die einzige Stelle, die belegt, dass Name-dropping seine Tücken hat.
Das Insistieren darauf, dass der Autor im Werk zu finden sei, erklärt sich nicht zuletzt aus der Vorliebe, die Genese von Kunst psychoanalytisch zu begreifen. Die Psychoanalyse bietet sich aber auch an, die Rezeption von Kunst zu interpretieren, wie der Aufsatz über Thomas Manns Verhältnis zu Wagner veranschaulicht. Manns Vorliebe für "Wotans Abschied" aus der "Walküre" z. B. entspreche seiner "Traumkonstellation einer Liebe, die von sexuellen Ansprüchen frei" einem "Kompromiß aus beiden Geschlechtern" gilt. In seiner Tochter Erika sei "ihm eine solche alle Tabus unterlaufende vollkommene Liebesbeziehung zuteil" geworden. "Erika paßte sowohl in ihrer emanzipiert verrückten, in der Tat ,walkürenhaften' Art [... ] wie in ihrer unbedingten töchterlichen Abhängigkeit vom ,Zauberer' genau in das Schema, das Wagner von der Beziehung Brünnhilde/Wotan gezeichnet hatte." Die Bemerkung ist ein Beispiel, auf welch kühne Weise die Verfasserin ihre Brücken zwischen Bereichen schlägt, die nicht gerade benachbart sind. Übrigens sei das Paar Wotan/Brünnhilde nur "eine Liebes-Figuration Wagners, die auf die Familie Mann abgefärbt" habe. Ein Übertritt der Kunst ins Leben sei auch die inzestuöse Konstellation zwischen Erika und Klaus Mann, wobei als Bindeglied zwischen dem Inzest in der "Walküre" und der Geschwisterliebe im Hause Mann die Novelle "Wälsungenblut" des Vaters gedient habe.
Es nimmt nicht wunder, dass die Urenkelin Wagners Analogien zu seinem Werk auch in der eigenen Familiengeschichte findet. Es geht um Winifred Wagners tatsächliche oder scheinbare Blindheit gegenüber Hitler. Als junge Erbin von Bayreuth habe sie keinen leichten Stand gehabt. Da sei ihr Hitler als Retter erschienen wie einst Lohengrin der Elsa von Brabant. Sie habe ihn geliebt, aber war "nicht so dumm wie die unglückselige Elsa, die unbedingt wissen will, wer ihr Retter ist". Der Vergleich ist nicht ohne boshaften Witz.
Über die Essays insgesamt ein bündiges Urteil abzugeben fällt schwer. Die Dankbarkeit für viele Anregungen, die in bequem lesbarer Form geboten werden, ist beeinträchtigt durch den Ärger über die Unzuverlässigkeit im Faktischen und den sehr weit gehenden Verzicht auf Plausibilität. Der feuilletonistische Schwung wird durch Ungenauigkeit erkauft, und der unargumentative Schreibduktus - etwa die Häufung rhetorischer Fragen - erschwert ein prüfendes Überdenken. Nike Wagners "Traumtheater" verlangt ein Publikum, das willens ist, sich gefangen nehmen zu lassen.