Was von der Liebe übrig bleibt
In Helen Humphreys' Roman "Der vergessene Garten" hat die Liebe viele Gesichter
Von Anette Müller
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMitten im Zweiten Weltkrieg wird Gwen Davis von der Royal Horticultural Society aufs Land geschickt, um in dem alten, verwilderten Garten eines Herrenhauses mit den Mädchen von der Land Girl's Army Kartoffeln für England anzubauen - kein leichtes Unterfangen, denn die jungen Mädchen interessieren sich mehr für die Soldaten, die in der Nähe einquartiert sind, als für den überwucherten Garten in Mosel. Gwen, die sich jahrelang im Labor vor dem Rest der Menschheit versteckte, hat Mühe, von den Mädchen akzeptiert zu werden und gibt ihnen im Geheimen die Namen von Kartoffelsorten. Nach und nach muss Gwen jedoch erkennen, dass auch sie die Sehnsucht der Mädchen nach Liebe teilt: Abends sitzen die Frauen zusammen und erzählen sich gegenseitig ihre Geschichten - Geschichten, die der Krieg geformt hat.
Helen Humphreys' zweiter Roman "Der vergessene Garten" erzählt die Geschichte eines Erwachens und der Selbsterkenntnis - erst in Mosel kann Gwen sich selbst eingestehen, dass auch sie Gefühle hat, die sie nicht immer ignorieren kann und dass die Liebe nicht nur in der klassischen Mann/Frau-Konstellation existiert, sondern in vielen Formen in Erscheinung treten kann. So schließt Gwen zum ersten Mal in ihrem Leben Freundschaft - mit Jane, die sich aus Angst um ihren vermisst gemeldeten Verlobten Andrew zu Tode zu hungern droht, und mit Raley, dem Kommandeur der Soldatentruppe.
Gwens Sehnsucht nach menschlicher Nähe verleitet sie jede Nacht aufs Neue dazu, sich auf dem Bett liegend zwei schwere Bände eines Botanik-Lexikons auf den Bauch zu packen und sich vorzustellen, das Gewicht eines Mannes auf sich zu spüren. Dennoch mag sie sich keine Gefühle zugestehen, auch wenn ihr Raley längst mehr bedeutet. Im Krieg müssen die schönen Dinge der Nützlichkeit weichen: "Pfingstrosen stehen für Verlust; das Gewicht ihrer Köpfe zieht sie zu Boden. Und Rosen stehen für die Liebe, was sonst? Doch das alles ist jetzt nebensächlich; es herrscht Krieg auf der Welt, und im Krieg müssen die Blumen den Kartoffeln weichen." Entfacht wird Gwens Sehnsucht von ihrer Entdeckung eines verborgenen Teils des Gartens, in dem ein Unbekannter vor Jahren augenscheinlich seiner Liebe Ausdruck verlieh. Nach und nach erforscht Gwen diesen Rosengarten, befreit ihn von dem wuchernden Unkraut und macht ihn zu ihrem eigenen Garten: "Ich habe immerzu dieses Stück bepflanzter Erde betrachtet und herauszufinden versucht, was es bedeutet, habe versucht, den Code zu entschlüsseln. Aber auf der Suche nach seiner Geschichte ist hier auch meine Geschichte entstanden. Dies ist jetzt auch mein Garten." Je näher Gwen dem Geheimnis des Gartens kommt, desto näher kommt sie auch ihren eigenen Gefühlen. Sie, die zuvor vollkommen Vernunftgesteuerte, erkennt, dass man gerade im Krieg Raum für ein bisschen privates Glück braucht - sei es in Form eines kleinen Blumenbeets, eines Romans von Virginia Woolf oder eines "Liebesobjekts" wie Raley.
Helen Humphreys hat einen dichten und vielschichtigen Roman geschrieben, in dem sie die Atmosphäre auf Mosel wunderbar einfängt, die ebenso geprägt ist von den Widerwilligkeit der Zwangsgemeinschaft und alles dem Krieg unterordnen zu müssen, wie von der Sehnsucht der jungen Frauen, in ihre bisherigen Leben zurückkehren zu dürfen. Eindrucksvoll setzt Humphreys die Darstellung des verborgenen Gartens ein, um Gwen für den Leser greifbar zu machen. Die Zeit auf Mosel wird für Gwen eine Zeit des emotionalen Wachsens und des Lernens. Ihre Liebe zu Raley bleibt unerwidert, aber Gwen hat gelernt, sich Dingen und Menschen zu öffnen, auch auf die Gefahr hin, einen Verlust zu erleiden: "Jede Geschichte ist eine Geschichte über den Tod. Doch vielleicht, wenn wir Glück haben, ist unsere Geschichte über den Tod auch eine Geschichte über die Liebe. Und das ist es, was ich von der Liebe behalten habe."