Der Neid der Mutter auf den Penis der Tochter

Gabrielle Gross über ein weibliches Konfliktfeld bei Fontane, Schnitzler, Keyserling und Thomas Mann

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Märchen ist es die böse Stiefmutter, die der jungen, schönen Prinzessin das künftige Glück neidet. Die Literaturwissenschaftlerin Gabrielle Gross ist der Auffassung, dass der Neid der Mutter auch die leiblichen Töchter verfolgt, und das nicht nur im Märchen. Vielmehr sei der "mütterliche[.] Neid[.] auf die Tochter" ein Problem, "das jede Frau be-trifft". In ihrer Dissertation unternimmt sie es, dieses "weibliche Konfliktfeld" zumindest in der deutschsprachigen Literatur nachzuweisen und dabei nicht nur einen Blick auf die neidischen Mütter zu werfen, sondern auch die beneideten Töchter zu beobachten. Als orthodoxe Freudianerin hat sie sich entschieden, ihre Überlegungen zur Psychoanalyse literarischer Werke "ausschliesslich aus Freuds Kommentaren" zu entwickeln und die "Lebensgeschichten" der literarischen Mütter und Töchter "wie psychoanalytisches Material" zu behandeln. Den "Schlüssel für die Erklärung des mütterlichen Neides auf die Tochter" glaubt sie in dem von Freud entwickelten Theorem des weiblichen Penisneids gefunden zu haben. Dass es von feministischen Psychoanalytikerinnen längst als falsch zurückgewiesen wurde, ficht sie nicht an, ja wird von ihr nicht einmal der Erwähnung für Wert erachtet.

Speise eine Frau ihr Selbstverständnis aus den "verschiedenen Spielarten des Penisersatzes", so führt sie aus, so müsse sie als Mutter "mit Neidgefühlen reagieren, wenn ihre Tochter über einen Penisersatz verfügt, den sie selbst nicht (mehr) erlangen kann". Bei dem "mütterlicher Neid auf die Tochter" handele es sich also um eine "Verschiebung des Penisneids".

Zentral für Gross' Interpretation literarischer Werke ist Freuds frühe Schrift "Bruchstücke einer Hysterieanalyse", in der er bekanntlich den 'Fall Dora' darlegt. Immer wieder findet die Autorin Parallelen und Analogien zwischen der dort geschilderten Familie der Patientin und denjenigen der literarischen Protagonistinnen in den von ihr untersuchten Romanen: Arthur Schnitzlers "Therese", die "Buddenbrooks" und "Die Betrogene" von Thomas Mann, Theodor Fontanes "Schacht von Wutherow", "Effi Briest" und "Mathilde Möhring" sowie "Die dritte Stiege" aus der Feder Eduard von Keyserlings. Dass alle untersuchten Romane von Männer verfasst sind, legt den Einwand nahe, "dass Konflikte zwischen Müttern und Töchtern aus weiblicher Sicht anders erfahren, beurteilt und rezipiert werden als aus männlicher". Ein Bedenken, dass die Autorin zwar antizipiert, das sie aber allein mit dem geschlechtsblinden Hinweis, schließlich lasse sich auch fragen, "wie objektiv denn eigentlich das ist, was in der realen Psychoanalyse eine Analysandin oder ein Analysand aus der persönlichen Biographie preisgibt", nicht entkräften kann. Zumal die Frauendarstellungen der Autoren ja - ebenso wie der Penisneid - reine Männerphantasien sein könnten.

Titelbild

Gabriele Gross: Der Neid der Mutter auf die Tochter. Ein weibliches Konfliktfeld bei Fontane, Schnitzler, Keyserling und Thomas Mann.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
244 Seiten, 41,90 EUR.
ISBN-10: 3906768120
ISBN-13: 9783906768120

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch