Über die Schwierigkeit, eine Künstlerin zu portraitieren

Christine Herolds Biografie über Helene Weigels Leben mit Bertolt Brecht

Von Frauke NowakRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frauke Nowak

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf den ersten Blick lässt der Titel tatsächlich die Biographie einer Schauspielerin erwarten: "Mutter des Ensembles. Helene Weigel - ein Leben mit Bertolt Brecht." Der Titel spielt auf Weigels Intendanz am Berliner Ensemble an und nennt in einem Atemzug mit ihrem Namen den berühmten Dramatiker, Theaterregisseur und Schriftsteller, der mit Weigel von 1929 bis zu seinem Lebensende verheiratet war. Dazu zeigt das Titelfoto des Paperbacks die Weigel in voller Aktion als Mutter Courage, in "ihrer" Mutter-Rolle: in der Rolle also, mit der sie über die Grenzen des geteilten Nachkriegsdeutschlands hinaus berühmt wurde.

Christine Herold präsentiert in sechs Kapiteln in chronologischer Abfolge das, was sie als Lebensweg der Weigel anhand zahlreicher Dokumente rekonstruiert hat: "Welche Geschichte hat diese Frau?" fragt sie vollmundig im Vorwort - und macht sich unerschrocken daran, uns im Folgenden diese "Geschichte" zu erzählen. Zur Illustration gibt es ein paar wenige, gut ausgewählte Fotos: Von zehn Abbildungen plus Titelbild veranschaulichen aber nur vier Fotos Bühnenerfolge Weigels. Die anderen Bilder zeigen sie als Intendantin, als Privatperson sowie als politisch Engagierte. Eine knappe Lebenstafel und ein ebenso knappes Literaturverzeichnis samt Anmerkungsteil runden den Inhalt des Büchleins ab.

Die Autorin bemüht sich um eine klare Gliederung ihres "Stoffes": Sechs Lebensetappen der Weigel werden zusätzlich in handliche Unterkapitelchen unterteilt, die bestimmte Fragestellungen teilweise genauer beleuchten sollen unter so sinnreichen Titeln wie z. B. "Treu - aber leider vielen" oder "Wissen, wann man nicken muss". Dies führt einerseits zu einem gut lesbaren Text. Andererseits lässt sich durch dieses Vorgehen nicht vermeiden, dass Glättungen und problematische Vereinfachungen die "Lesart" dieses Lebens bestimmen. Jugend und erste Berufserfahrungen, Bekanntschaft und Ehe mit Brecht, Exil in Europa und den U.S.A., Intendanz am Berliner Ensemble, Jahre ohne Brecht, aber mit seinem Erbe - dies sind Etappen, die Herold aus der Retrospektive als kontinuierliche, bruchlos aufeinander folgende Zeitspannen fraglos ineinander greifen lässt. So bietet diese Biographie eine unpolitische und unhistorische, "private" Sichtweise auf das Leben einer großen Künstlerin.

Die Einwände gegen diese Weigel-Biographie knüpfen hier an. Ein reiches, intensives Leben in schwierigen politischen Zeiten und unter harten Bedingungen wird bei näherer Betrachtung auf eine ärgerliche Formel gebracht: Weigel, die große Schauspielerin und Gründungsintendantin des Berliner Ensembles, wird immer wieder in der Rolle der "Mutter" und Ehefrau thematisiert. Anhand dieser beiden Deutungselemente strukturiert Herold die gesamte Weigelsche Lebensbeschreibung - so dass sich zwar eine überraschend geschlossene, jedoch überwiegend rein privat-psychologistische Biographie Weigels ergibt. Herold unterstellt Weigel einen fast angeboren zu nennenden Mutter-Habitus: In dieser Sichtweise ist es dann weder Zufall, dass Weigel in der Rolle der Anna Fierling, genannt Mutter Courage, berühmt wurde noch dass sie sich für Brecht entscheidet. "Helene Weigel wuchs immer mehr in die mütterliche Rolle hinein, die er [Brecht] ihr abforderte. Es scheint so, als habe sie sich unbewusst einen Partner gewählt, der sie in einer ausgeprägten Seite ihres Wesens noch bestätigte. Daraus gewann sie einerseits Stärke, andererseits beschränkte es sie in der Möglichkeit, sich selbst in Zukunft noch auf andere Art zu verwirklichen."

Die Festlegung der Interpretation auf eine Art körperlich-seelische Disposition der Weigel, aus der heraus sie sich um ihre Mitmenschen stets in hohem, offenbar besonders erwähnungsbedürftigen Maße gekümmert hat (was dann von der Biographin mit Mütterlichkeit assoziiert wird), beschränkt jedoch vor allem die Möglichkeit, die Weigel und ihr Leben noch auf andere Art zu interpretieren - sie beispielsweise als "waschechte", sozusagen mit allen Theaterwassern gewaschene Künstlerin anzusehen. Aber fraglich ist nicht allein diese Perspektivenverschiebung (Mutter statt Künstlerin). Fraglich ist auch die Vorstellung von Mütterlichkeit, die hier präsentiert wird: "Aus Brechts Briefen geht hervor, wie ihm Helene Weigel sein Leben regelte. Mit jedem Schreiben hatte sie neue Aufträge, Behördengänge, Einkäufe, Organisatorisches zu erledigen. " - "Brecht kam zum Mittagessen, und sie organisierte ihm sein Leben." Weigel kümmert sich immer wieder um alles, was das Leben so mit sich bringt, auch um Wohnung und Mobiliar für Brechts geliebte Mitarbeiterinnen (was die Biographin findet) - aber ist das das typische Verhalten einer Mutter?

Für Herold jedoch entstammt Weigel der jüdischen Tradition und von daher bringt sie immer wieder die Interpretationsfigur der "jiddischen Mamme" ins Spiel - trotz der Tatsache, dass Weigel mit 28 Jahren aus der jüdischen Gemeinde austrat. Weigel - so wird suggeriert - kann und will aufgrund ihrer Konditionierungen gar nichts anderes, als immer wieder die Mutterrolle einzunehmen: "Der Entwurf, den Helene Weigel sich von sich selbst gemacht hatte, und ihre Bühnenrolle wurden eins. Sie sah sich in ihrer Lebenswirklichkeit als Mutter, und sie spielte auf der Bühne die Mutterrolle." Die Karriere als Mutter Courage und ihr Verhalten als Intendantin erscheinen in dieser Sichtweise nur als offizielle Aspekte einer psychologischen Grundstimmung und -bestimmung ihres Wesens.

Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Interpretation des Verhältnisses Brecht-Weigel. Sicherlich ist der Autorin das Bemühen anzumerken, Weigel aus der (literatur-)historischen Nicht-Existenz ein wenig herauszuziehen und sie so nahe an Brecht zu knüpfen, dass sein Ruhm sich zumindest ein wenig auf ihrer beider Häupter verteilt. "Eine Schauspielerin müsste man haben" - diese überlieferte Initialzündung der Brecht-Weigelschen Begegnung und das daran anschließende gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis (in künstlerischer Hinsicht) wird jedoch von Herold nicht weiter ausgebaut. Zwar kommt Herold zu der Überlegung: "Was war zuerst - ihr Spiel oder seine Vorstellung von ihrem Spiel? Wahrscheinlich inspirierten sie sich gegenseitig, Helene Weigel wusste, was Brecht wollte, und er, was sie auf der Bühne darstellen konnte." Überwiegend steht für die Biographin jedoch fest, dass erst Brecht die Weigel künstlerisch zu dem gemacht hat, was sie geworden ist: "Spät nahm sich Brecht seiner Frau als Schauspielerin an." Und sicher könne "man sagen, dass sie ohne Brecht nicht diese schauspielerische Leistung erreicht hätte." Die Frau (Weigel) ist künstlerisch abhängig von dem Mann (Brecht). Vielleicht lautet auch deshalb das erste Wort des gesamten Buches: "Brecht". Eine eigenständige künstlerische Identität der Künstlerin bzw. ein Wechselspiel zwischen zwei selbstständigen Künstlerpersönlichkeiten gibt es in dieser Biographie jedenfalls nicht: "Brecht war der elastische, allem Neuen zugewandte Charakter, mitreißend, spontan, immer voller neuer Ideen [...]. Sie [...] faszinierte seine Lebendigkeit und Aufgeschlossenheit, sie brauchte ihn, um aus ihren gewohnten Denkschemata herauszukommen, sich auf Neues einzulassen, ihrer Solidität Farbigkeit und Buntheit zu verleihen." Die biedere Weigel und der Paradiesvogel Brecht? Aber warum wurde Brecht dann in späteren Jahren so "pompös, wenn es um seine Frau und ihre Arbeit ging"?

Ein letzter Aspekt: Herold wirft einen völlig unpolitischen und unhistorischen Blick auf dieses Künstlerinnenleben. Spätestens seit der Bekanntschaft und Zusammenarbeit mit Brecht sollte man den Aspekt des "Politischen", des Politisierten aber nicht unterschätzen. Das beginnt bei der Interpretation ihrer "Privatbeziehung", die bewusst aus dem Gestus des Antibürgerlichen heraus gestaltet wird. Dazu kommt: Brecht/Weigel machen politisches Theater. Sie entwickeln eine besondere, neue Form des Theaterspielens, die aus einer politischen Reflexion entstanden ist und auf politische Wirkung zielt: Das "epische Theater" macht die Bühne zu einem Ort, der den Zuschauenden in besonderer, weil anschaulicher Weise zur reflektierten und deshalb zu besonders nachhaltiger Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen aufruft; das epische Theater konstruiert die Wirklichkeit als Spiel, dessen Ausgang beeinflussbar ist. Weigel steht dabei im wahrsten Sinn des Wortes im Rampenlicht: Durch ihr Spiel verkörpert sie erfolgreich eine politische Theatertheorie und steht damit im aufkeimenden Nationalsozialismus im Brennpunkt der historischen Situation. Wie kommt dieser Zusammenhang bei Herold zur Sprache? Für die 30er Jahre wird Weigel aufgrund ihrer idealistischen Lebensauffassung eine Vorliebe für den Kommunismus unterstellt: "Warum sich Helene Weigel zu den kommunistischen Ideen so hingezogen fühlte, hat sie niemals genau formuliert. Sie entsprachen jedoch ihrer idealistischen Lebensauffassung. Ihrer Neigung zum sozialen Engagement hätte sie unter anderen Umständen ebenso gut in der jüdischen Gemeinde in Berlin nachgehen können. Aber aus dieser trat sie im Jahr 1928 aus. Ihr Lebensweg hatte sie in Richtung Sozialismus geführt, hier sah sie die Möglichkeit, ihren Beitrag zur Verbesserung der Welt zu leisten." Keine Rede von selbstständigem Denken oder politischer Reflexion, keine Rede vom Zusammenhang von künstlerischem Ansatz und Politik: es ist die soziale Ader der Weigel, die sie in die Arme des Kommunismus treibt. Bestenfalls kann man der Biographin hier ein etwas oberflächliches historisches Bewusstsein unterstellen. Eigentlich aber ist diese Interpretation gleich in mehrfacher Hinsicht eine Frechheit. Wenn die Weigel sich niemals genau zu politischen Ideen äußerte (wenn das denn stimmt), hat sie deshalb kein eigenes Reflexionsvermögen? Vielleicht hatte sie einen oder gar mehrere gute Gründe, sich nicht explizit über ihr politisches Denken zu äußern. Vielleicht wurde auch nie danach gefragt. Auch die klare Entscheidung der Weigel gegen die jüdische Gemeinde und damit die Absage an die religiös motivierte Gemeinschaft und jüdische Tradition wird von der Interpretin einfach übergangen. Herold nimmt sich das Recht heraus, jenseits aller großen Ideologie und Diskussion lediglich eine diffus agierende soziale Ader der Weigel zur Interpretation heranzuziehen. Ob dann noch die platte Einschätzung, Kommunisten seien "Weltverbesserer", der Weigelschen Sichtweise auch nur annähernd gerecht wird, darf bezweifelt werden.

Im selben oberflächlichen Tonfall wird auch der mühsame Weg ins Exil und die dort verlebte Zeit dargestellt: so als sei es klar und selbstverständlich, dass man ins Exil geht, wenn die Nazis die Macht übernehmen - und nach dem Krieg kehrt man eben wieder zurück. Und weil man den Sozialismus irgendwie besser findet als den Kapitalismus, bleibt man im Ostsektor respective spätere DDR wohnen. Die spezifischen Probleme der Theaterführung in der späteren DDR, mit staatlich kontrollierter Kunstausübung und Stasimacht, existieren in den Augen der Biographin für Weigel auch nicht in besonders erwähnenswürdiger Schärfe: "Die Weigel [...] wird ihr Theater in Berlin nur deshalb so sicher durch den Alltag in einem totalitären Staat führen können, weil sie sich arrangiert und nicht exponiert und opponiert." Sie hält "das Leben mit ihrer pragmatischen Art in Gang". Die Leiterin des Berliner Ensembles "reagierte pragmatisch auf die politische Gegenwart und auf die weitere Entwicklung der DDR in den kommenden Jahren." Sie tat "hinter den Kulissen, was sie konnte. Die Unrechtmäßigkeit der Prozesse jedoch grundsätzlich und öffentlich anzuklagen, wäre gefährlich geworden. Und immer blieb sie dem Staat treu. [...]. [E]s lag wohl in ihrer Natur, Probleme nicht auf theoretischer Ebene, sondern in persönlicher Konfrontation zu lösen."

Das Buch von Herold ist auf jeden Fall etwas für den "interessierten Laien" (wie es so schön heißt), der sich aufgrund der Lektüre sicherlich recht gut eine Meinung zu Helene Weigel bilden kann. Ob diese Meinung jedoch dieser Künstlerin gerecht wird, steht auf einem anderen Blatt.

Zum Schluss möchte ich noch einmal auf das letzte abgedruckte Foto hinweisen. Es ist ein rechtes Abschiedsfoto: Weigel steht lächelnd, etwa vier Wochen vor ihrem Krebstod, auf der mit Rosen übersäten Bühne, erlebt den Applaus des Publikums nach ihrer letzten Aufführung noch einmal in vollen Zügen. Dieses Lächeln einer alten Schauspielerin: Es sind nicht nur ihre sehr weichen Gesichtszüge, die lächeln - Helene Weigel lächelt wirklich mit dem ganzen Körper. Vielleicht lohnt dieses Bild allein die Anschaffung des ganzen Buches - auch für gestandene GermanistInnen und TheaterwissenschaftlerInnen.

Titelbild

Christine Herold: Mutter des Ensembles Helene Weigel - ein Leben mit Bertolt Brecht. Biographie.
ars vivendi Verlag, Caldozburg 2001.
260 Seiten, 13,50 EUR.
ISBN-10: 389716230X

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