Panik vor Gefühlskälte
Sven Lager sucht nach der verlorenen Zeit
Von Gustav Mechlenburg
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Erinnerung ist ein trügerisches Unterfangen", heißt es in Sven Lagers neuem Roman "Im Gras". Und doch handelt das ganze Buch einzig und allein davon. Ungewöhnlich für "ein typisches Kind einer Generation, die die Gegenwart und den ständigen Neuanfang verehrt". Der Ich-Erzähler Ben reflektiert, durch einen lächerlichen Unfall an beiden Beinen eingegipst und allein im Haus von Freunden in Bangkok, über sich selbst und vergangene Zeiten. Das ist neu für den jungen Maler fotorealistischer Bilder, der nichts aufhebt und sich aus Angst vor der Sesshaftigkeit auch nirgendwo richtig eingerichtet hat. "Ich bin sogar extrem in der Fähigkeit, alles Gewesene zu vergessen, um besser anfangen zu können mit dem, das ich für neu halte. Meine jetzige Lage ist eine Umkehrung. Nicht nur, dass ich mich nicht bewegen kann, es erwartet mich auch in der Zukunft nichts als das Gewohnte."
Diese Resignation scheint auch bei der Beschreibung der Freunde, bei denen er zu Besuch ist, durch. Sie reden ihm zu viel. Am liebsten hat es Ben, wenn sie ruhig wie Möbel den Raum bestücken. Ebenso schonungslos spricht er von seiner abgrundtiefen Verachtung seiner Freundin Sis gegenüber, aber auch von seiner abgöttischen Verehrung und besinnungslosen Liebe, die er für sie empfindet "in den unpassendsten Momenten". Er ist froh, dass sie alle mit den Kindern ein paar Tage ans Meer gefahren sind, und er seine Ruhe hat. Ein missmutiger und arroganter Held, der jedoch zu äußerst sensiblen Gedankengängen fähig ist - ausgelöst von der Nachricht des baldigen Todes seiner großen Liebe Monica. Fern in Europa liegt die wesentlich ältere Frau, mit der Ben viele Sommer in Schweden verbracht hat, und die er schon sein ganzes Leben lang liebt, im Sterben. Durch seine Erinnerungen an die gemeinsame Zeit versucht er sie am Leben oder doch zumindest in seinem Gedächtnis zu halten.
Zeitweise gelingt dies ganz gut. "Zu den Tagen im Gras, auf schattigen Ästen in moosigen Bäumen, und zu den flachen Felsen, die überall durch die dünne Schicht der Erde brechen, gruppieren sich wahllos andere Ereignisse, die lässig wie Laub durch meine Erinnerung schweben: Das Blättern in alten Ausgaben des Stern, Federballspiele auf schrundigem Rasen, das Tauchen bis zum schlammigen Grund eines eiskalten Sees." Was Marcel Proust seine Madeleine, das ist Ben der Geruch Monicas Eau de Cologne. Ein welker Geruch, der ihn schon vor Jahren befürchten ließ, neben einer Leiche aufzuwachen. Immer wieder hatte Monica ihn in Telefonaten belustigt daran erinnert.
Doch dann wieder Leere. "Was weiß ich noch von Monica? Nichts." Den Zeitreisenden überfällt ein Schwindel, "da ich auf der Festung der Vergangenheit stehe, auf totem Stein, gigantisch, über mir nur die Luft, das Ungewisse. Ständig wächst die Festung und wird höher, eine Masse toter Ereignisse, die sich auftürmen unter mir, während ich in Schwindel erregender Höhe stehe". Das klingt nicht mehr nach Proust, sondern erinnert an Walter Benjamins "Engel der Geschichte". Die Angst vorm Vergessen, davor, dem Vergangenen und der Person, mit der er so viel Zeit verbracht hat, nicht gerecht zu werden. Er reflektiert über seine eigene Gefühlskälte. "Ich zögere, ob mich der Gedanke nun völlig deprimieren soll." Doch es ist nur die "Panik, dass Monica sterben wird, die mich so empfinden lässt".
"Da wo ein Strom der klarsten Erinnerungen und Momente unseres gemeinsamen Lebens sein sollte, ist nichts als ein vages Bild in meinem Innern." Das liegt im weiteren Verlauf des Romans vermehrt auch an den Fieber-Delirien, in die ihn sein entzündetes Bein treibt. Farben, Gerüche, Stimmungen wechseln sich ab mit Traumsequenzen und intellektuellen Reflexionen, die ihn davon abhalten, seinen Gefühlen tatsächlich freien Raum zu lassen. Er kann keine Trauer empfinden, "ohne das Gefühl zu haben, etwas Kitschiges zu tun." Angenehmerweise endet Bens Verzweiflung somit jeweils kurz vor dem Selbstmitleid.
Das ist von Lager psychologisch hochsensibel nachvollzogen und in sehr schönen Bildern sowie einer überaus poetischen Sprache eingebettet. "Im Gras" ist dadurch ein sehr ruhiger Roman geworden. Keine Effekthascherei, kein sonst von Lager bekanntes "Geschimpfe" oder Szene-Gerede. Das Buch zeigt auf wunderbare, aber auch erschreckende Weise den schmalen Grat zwischen "wahrer" Liebe und purer Projektion. Nur manches Mal sind die assoziativen Übergänge allzu plump gestaltet. Wie etwa, als Ben bereits die zigste Thunfischdose geleert hat: "Ich bin offensichtlich schon in einem Zustand, in dem mir die Vorstellung besser schmeckt als das wirkliche Essen. Monica isst auch nichts mehr. Sie wird ernährt von einem Beutel Zucker, der neben ihr hängt." Solche daher gezauberten Gedankenfolgen ergeben sich leicht auf Grund der Handlungslosigkeit des Romans. Sind aber dem Können und dem Selbstverständnis dieses Autors unangemessen. Denn wie sagte Sven Lager in einem Interview zu seiner Ex-Pool-Kollegin Elke Naters? "Kunst ist es, das, was man nicht kann, auszusparen."