Kein Platz für Alte und Kranke

Der Katalog zur Darmstädter Ausstellung "Die Lebensreform - Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900"

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die 1899 vom Großherzog Ernst-Ludwig von Hessen-Darmstadt in seiner Residenzstadt gegründete Künstlerkolonie Mathildenhöhe, Wirkungsstätte vieler herausragender Künstler, vor allem der Architekten Joseph Maria Olbrich und Peter Behrens, erlebt 1901 mit der Ausstellung "Ein Dokument deutscher Kunst" ihren Höhepunkt. Vorgeführt wird ein Gesamtkunstwerk, das Außen- und Innenarchitektur, Bildhauerei, Malerei sowie anspruchsvolles Design für Möbel und andere Gebrauchsgegenstände zu vereinen sucht. Mit dem von Behrens inszenierten Weihespiel "Das Zeichen" werden zusätzlich das Theater und dessen angestrebte Reform einbezogen. Doch es geht auf der Mathildenhöhe nicht allein um Kunst, vielmehr darum, Kunst und Leben zu verbinden, moderne Kunst soll moderne Kultur widerspiegeln, um "einen Markstein auf dem Wege der Lebenserneuerung zu setzen" (Olbrich).

Ein Jahrhundert nach dieser epochalen Ausstellung wurde ihrer und ihres kunst- und geistesgeschichtlichen Umfelds in einer aufwendigen Ausstellung des Instituts Mathildenhöhe gedacht: "Die Lebensreform - Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900". Sie dokumentierte, dass das Darmstädter Projekt kein Sonderfall war, sondern eine Manifestation von Bestrebungen, die nationales und z. T. auch internationales Ausmaß hatten und bis heute nachwirken. Mehr noch als die Ausstellung selbst lenkt der Katalog, der die Lebensreform in ganzer Breite vorzustellen sucht, den Blick auf teils offenkundige, teils jedoch nicht ohne weiteres wahrnehmbare Zusammenhänge, die dazu zwingen, das Bild, das man gemeinhin von der Zeit um 1900 hat, zu revidieren oder zumindest zu modifizieren. Allerdings erweist sich der in den 1890er Jahren aufkommende Begriff ,Lebensreform' wegen der Disparität der Gegenstände, die ihm subsumiert werden, als schwer definierbar. Vielerlei lässt sich mit ihm in Verbindung bringen: der George-Kreis ebenso wie die Odol-Flasche, Kandinsky ebenso wie der Nudismus, die Kunstfotografie ebenso wie der Vegetarismus, die Frauenemanzipation ebenso wie die Bismarcksäulen, der weltanschauliche Monismus eines Ernst Haeckel ebenso wie die Turnschuhe, die Joschka Fischer bei seiner Vereidigung als hessischer Umweltminister trug, usw. usw. Die auseinander strebende Stoffmenge entzieht sich jeder streng kategorialen Bestimmung.

An dem einen Ende des bunten Spektrums steht ein abstrakter und emphatisch aufgeladener Begriff vom ,Leben', wie wir ihn aus der Lebensphilosophie kennen; er spielt für die Zeit um 1900 eine ähnlich zentrale Rolle wie der Begriff ,Natur' für die Goethe-Zeit. Am anderen Ende steht das bis ins konkrete Detail gehende Bemühen, das alltägliche Leben umzugestalten, d. h. Veränderungen in Ernährung, Kleidung, Wohnung, Gesundheitspflege, Sexualität u. a. herbeizuführen. Dabei sind die Leitmotive: Echtheit, Reinheit, Klarheit, Schönheit und Natürlichkeit. Abgelehnt wird die industrielle Zivilisation und ihre Begleitumstände. Vielleicht dient es der Veranschaulichung, wenn man den soziologischen Aspekt herausgreift und die Lebensreform als eine Protestbewegung gegen das Bürgertum in seiner gründerzeitlichen und wilhelminischen Ausprägung begreift und sich als einen beispielhaften Vertreter dieses Bürgertums den Protagonisten aus Heinrich Manns Roman "Der Untertan" vor Augen führt, den bierbäuchigen Papierfabrikanten Diederich Heßling. In dessen hässlichem Leben ist all das unvorstellbar, was die Lebensreformer anstreben. Ihre Ikone ist der nackte Ephebe, der in heroisch stilisierter Landschaft das Licht adoriert - die einschlägigen Darstellungen von Hugo Höppener, besser bekannt als Fidus, sind allgegenwärtig.

Die Beziehungen zwischen bildender Kunst und Lebensreform sind eng, und dementsprechend fehlt im Katalog kaum ein bedeutender Maler oder Bildhauer aus der Zeit um 1900. Angefangen bei dem heute weniger geschätzten Hans Thoma über die verschiedenen Variationen dessen, was man üblicherweise unter Jugendstil versteht, bis hin zu den Expressionisten und dem Beginn abstrakter Kunst ist so gut wie alles vertreten, und der Katalog ist ein schönes und lehrreiches Bilderbuch. Im Mittelpunkt steht die Darstellung des schönen menschlichen Körpers in harmonischer Landschaft, ein Sujet, dessen sich auch die Aktfotografie bemächtigt.

Weniger eng ist das Verhältnis zwischen Lebensreform und Literatur, und es lässt sich auch nicht in ähnlich fasslicher Weise präsentieren. Zwar enthält der Katalog eine Fülle von Hinweisen; sie sind jedoch schwerlich auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Den Autor der Lebensreform gibt es nicht. Ein solcher ist selbst Richard Dehmel nicht, obschon das rauschhafte Lebensgefühl, dem er Ausdruck zu verleihen sucht, vom selben Zeitgeist zeugt wie die Bilder eines Ludwig von Hofmann oder eines Fidus. Hermann Hesse bewegt sich ebenfalls im Dunstkreis der Lebensreform. Er lässt sich nackt in freier Natur fotografieren und ist Gast auf dem Monte Verità im Tessin, einem Zentrum ,alternativer' Bestrebungen, in dem sich Bohème und Lebensreform begegnen und das auch von Erich Mühsam, Franziska Gräfin zu Reventlow, Karl Wolfskehl, Karl Bleibtreu, Leonhard Frank, Else Lasker-Schüler, Stefan George, Klabund und Ivan Goll besucht wird - so die Reihenfolge der Autoren in einer Gästeliste, die noch weit mehr Prominenz verzeichnet, u. a. Lenin. Die Biographie Gerhart Hauptmanns verzeichnet gleichfalls Berührungspunkte mit der Lebensreform; doch bleibt er skeptisch. In seinem sozialen Drama "Vor Sonnenaufgang" führt die Kompromisslosigkeit eines auf Abstinenz beharrenden und an die Erblichkeit des Alkoholismus glaubenden Reformideologen zur menschlichen Katastrophe. Dass der Kult des Lebens und des Leibes zwiespältig ist und kein Garant für landläufiges Glück, dafür bietet auch das Werk von Frank Wedekind, das unter dem Aspekt der Lebensreform zu betrachten sehr lohnend ist, instruktive Beispiele. Ein wegen seiner Ambivalenz so befremdlicher Text wie "Mine-Haha oder über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen" ist hervorragend geeignet, den Blick für die Inhumanität zu schärfen, die durch die Abdankung des Geistes und die Inthronisation des Körpers droht. Wegen der dezidierten Abkehr von bürgerlicher Banalität und der Suche nach neuen Lebensformen werden George und sein Kreis verhältnismäßig vorbehaltlos der Lebensreform zugerechnet. Lebensreformerische Gedanken und Themen finden sich außerdem bei Peter Altenberg, Emil Strauß und manch anderem heute so gut wie vergessenen Autor. Bürgerlich bleibt Thomas Mann. Er weiß, dass sein Werk, das vorwiegend Dekadenz, Krankheit und Tod thematisiert, unvereinbar ist mit "Regeneration" und "Gesundheits- und Durchsonnungstendenz"; polemisch spricht er sogar von einer "literarischen Nacktkultur". Von Franz Kafka, den sein Vegetariertum mit einer Hauptströmung der Lebensreform verbindet, ist zu berichten, dass er sich zwar einer Kur in dem naturheilkundlichen Harzer Sanatorium Jungborn unterzieht, dort aber unter den Nackten als "Mann mit den Schwimmhosen" auffällt, was denn doch auf Reserviertheit gegenüber zwangloser Körperlichkeit schließen lässt.

Auf keine Gestalt der Geistesgeschichte stößt man in dem Katalog so oft wie auf Nietzsche. "Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden!" Und weiter: "Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für ein etwas am Leibe." Ferner: "In dein Auge schaute ich jüngst, o Leben: Gold sah ich in deinem Nacht-Auge blinken, - mein Herz stand still vor dieser Wollust" - solche Zarathustra-Sätze geben dann den Ton an, wenn Lebensreform sich nicht damit begnügt, Lebenspraxis zu verbessern, sondern Weltanschauung sein will. Natürlich handelt es sich hierbei um die Vereinseitigung eines vielseitigen Denkers, und gewiss löst Nietzsche die Lebensreform nicht aus; vielmehr wird seine Rezeption, die aus einem Philosophen einen Mythos macht, von demselben Zeitgeist getragen, der auch die Lebensreform beflügelt. Ein Aufsatz über Nietzsche-Bildnisse zeichnet nach, wie bereits Nietzsches Äußeres immer stärker stilisiert wird. Der unfreiwillig komische Höhepunkt ist ein 1907 entstandenes Exlibris, das einen nackten Nietzsche - der Körper ungemein athletisch - auf einem Felsen im Hochgebirge zeigt.

Ein besonders interessantes Kapitel der Nietzsche-Rezeption ist der trotz weitgehender Vorbereitungen unausgeführt gebliebene Plan Harry Graf Kesslers, in Weimar eine gigantische Nietzsche-Gedenkstätte zu errichten (Entwurf von Henry van de Velde): Vor einem Nietzsche-Tempel, dessen Architektur entfernt an eine Bismarcksäule erinnert, steht die überlebensgroße Marmorstatue eines männlichen Akts. Hinter dem Tempel liegt eine Arena für sportliche Wettkämpfe. Außerdem soll einer Tagebuchnotiz Kesslers zufolge dem Denkmal ein "Institut für Genetik, Rassenveredelung" angeschlossen werden.

Die Notiz Kesslers lenkt das Augenmerk auf einen unheilträchtigen Aspekt der Lebensreform. Ihr latenter und zuweilen manifester Biologismus bringt es mit sich, dass mancher Lebensreformer nicht bei der Gesundheit des Einzelmenschen Halt macht, sondern sich auch um die Gesundheit oder gar Reinheit der Rasse sorgt, wobei er an die arische oder, noch enger, an die germanische Rasse denkt. Was sich hier abzeichnet, ist zu bekannt, als dass es erörtert werden müsste. Aber es ist völlig verfehlt, deswegen die ganze Lebensreform der Vorgeschichte des Nationalsozialismus zuzuordnen. Im Übrigen gibt es Eugenik nicht nur in Deutschland - der Begriff kommt aus England -, und die neuerliche internationale Debatte über Reproduktionstechnologie belegt die Aktualität der einschlägigen Probleme wie auch die Gefahr, sie wie vor hundert Jahren szientistisch lösen zu wollen.

Darüber, dass von der Lebensreform mehr nachwirkt, als allgemein bewusst ist, informiert das Kapitel über ihre Kontinuität und Aktualität, und es ist dabei nicht nur an Reformhäuser und Birkenstock-Sandalen zu denken. Dass sich die Ökologiebewegung aus der Lebensreform herleitet, ist nahezu evident. Auch die moderne Pädagogik mit ihren kindzentrierten Methoden, mit Montessori- und Waldorfschulen, mit Landschulheimen und Alternativschulen ist ohne die Reformpädagogik undenkbar, der Ellen Key mit ihrem Buch "Das Jahrhundert des Kindes" (1900) die Initialzündung gab. In der Kunst suchen Joseph Beuys und Friedensreich Hundertwasser wie einst die Künstler der Mathildenhöhe Kunst und Leben zu verknüpfen.

In einem wesentlichen Punkt allerdings scheint die Lebensreform einer Vergangenheit anzugehören, die weit zurückliegt. Ihre jubilierende Aufbruchstimmung und ihre Zukunftsgläubigkeit setzen Jugend voraus und sind in einer Gesellschaft, die demographisch immer älter wird, so gut wie unvorstellbar. Man könnte die Lebensreform eine Jugendbewegung nennen, wäre diese Bezeichnung nicht bereits eingeengt auf eine Reformströmung, die ein Teil von ihr ist. Embleme sind der Frühling und der Sonnenaufgang, fast immer in Verbindung mit schönen jungen Körpern und offensichtlicher oder unterschwelliger Erotik. In der Welt der Lebensreform ist kein Platz für Alte und Kranke.

Der zweibändige großformatige Katalog enthält auf über 1.200 Seiten neben vielen Abbildungen 147 zwei- bzw. dreispaltig gesetzte Beiträge von etwa hundert, z.T. namhaften Autoren. Er will "ein Fundament legen und damit ein neues Panorama der Zeit um 1900 wissenschaftlich erschließen". Das gelingt in einer durch die Menge der Information und die Fülle der Anregungen eindrucksvollen Weise. Diese Einschätzung wird auch dadurch nicht beeinträchtigt, dass das Niveau der Beiträge unterschiedlich ist. Neben luziden Aufsätzen und Essays stehen Beiträge, die sich mit Information begnügen und zuweilen ins Name-dropping abgleiten. Das ist immerhin noch nützlicher als ein unverbindliches ,Gefasel', das jedoch erfreulich selten ist. Sehr zu beklagen aber ist ein schweres Versäumnis: der Verzicht auf ein Namens- und Sachregister. Zumindest Ersteres hätte sich ohne nennenswerten Aufwand herstellen lassen und wäre wohl von jedem Benutzer begrüßt worden; denn eine kontinuierliche Lektüre des gesamten Katalogs ist nur sehr geduldigen Menschen zumutbar. Sie bereitet schon deswegen Ungemach, weil jeder Band einige Kilo wiegt, was dem Leser nicht erlaubt, es sich in einem Sessel bequem zu machen. Verlangt werden viele Stunden am Schreibtisch, also in einer Haltung, die nicht gerade den Forderungen der Lebensreform entspricht, die den Körper von allen äußeren Zwängen befreien will. Wer aber diese Stunden hinter sich gebracht hat, darf mit dem Gefühl aufstehen, viel gelernt zu haben.

Titelbild

Kai Buchholz / Rita Latocha / Hilke Peckmann / Klaus Wolbert (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900.
Institut Mathildenhöhe, Darmstadt 2001.
624 und 607, 57,50 EUR.
ISBN-10: 3895520772

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