Aber mal angenommen

Hans Belting interpretiert Hieronymus Boschs "Garten der Lüste"

Von Thomas HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Grau in grau schwebt im Nichts eine transparente Kugel. Sie ist zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Aus den Wassermassen erhebt sich frisch zerklüftetes Land, dessen Felsen und Wiesen mit allerlei Bäumen bewachsen sind. Darüber quellen an der Innenseite der Kugel mächtige dunkle Wolkenformationen zu ersten Schlechtwetterfronten. Fahles Licht durchdringt die Leere der Szenerie, überzieht sie mit farblosen Nuancen. Der dritte Tag der Schöpfung ist vorüber, Wasser und Land sind geschieden, Pflanzen wachsen. Die Sonne wurde noch nicht gemacht. Über diesem unfertigen Kosmos sitzt links oben Gott Vater in einer Höhle des Nichts und gibt einen "ungewöhnlich schüchternen Schöpfungsbefehl, als entglitte ihm bereits die geschaffene Welt. Er trägt eine Bibel auf den Knien, als brauchte er ein Drehbuch, nach dem er die Welt erschuf." Diesen Anblick voll erhabener Tristesse, mit dem traurigen Erschaffer der noch jungen Elemente, bietet das geschlossene Triptychon Hieronymus Boschs dem Betrachter. Hans Belting hat sich nun daran gemacht, ein wenig mehr Licht in das gesamte Gemälde, in dessen vier Motive, zu bringen, und versucht, das Rätsel des unter der neugeborenen Erde liegenden Mittelbildes zu lösen, das dem Ganzen den Namen "Garten der Lüste" gibt.

So verborgen wie die zentrale Tafel hinter den geschlossenen Flügeln, so verborgen der ursprüngliche Titel und die Absichten des Künstlers, so verborgen ist auch das Leben des Jheronimus Anthonissen van Aken, der sich später nach seiner Heimatstadt 's-Hertogenbosch den Malernamen Bosch gab. Um 1450 wurde er dort geboren, 1516 ist er dort gestorben. Er lebte also in der Zeit des Übergangs von der späten Gotik zur entstehenden Renaissance, im großen Umbruch vom Mittelalter zur frühen Neuzeit, noch beinflusst von der tiefen Religiosität der ausgehenden Epoche und bereits mit den hybriden Gedankenversuchen der Humanisten.

Vom "Garten der Lüste" ist bezeugt, dass er schon ein Jahr nach dem Tode des Künstlers im Stadtpalais der Grafen von Nassau in Brüssel hing, in einem Raum, den man als Vorläufer der späteren Kunst- und Wunderkammern und Kuriositätenkabinette sehen kann, in denen sich die hohen Herrschaften von allerlei Merkwürdigkeiten unterhalten ließen. "Über seine Wirkung im Schloss lassen sich Vermutungen anstellen, wenn wir uns einen Augenblick der Phantasie überlassen. Der Hausherr hat wieder einmal zu einem seiner zahlreichen Banketts eingeladen. Nachdem die erste Runde Wein ausgegeben ist, führt er seine Gäste vor das Werk, das sie in seinem geschlossenen Zustand antreffen. Zwar haben sie Wunderdinge darüber erzählen hören, doch sind sie enttäuscht von der abweisenden Leere der Außenseite, auf der die Farben fehlen. Als der Graf ihre Gesichter sieht, weist er einen Diener an, diesen riesigen düsteren Schrank zu öffnen. Als sich die Flügel öffnen, bricht die Gesellschaft in einen lauten Ruf der Überraschung aus. In einer Explosion von Farbe kommt mit dem Liebesgarten eine Sensation in Sicht, wie sie bis dato noch niemand in der Malerei gesehen hatte."

Vor dem Betrachter entlädt sich - so inszeniert - schlagartig ein optisches Gewitter. Um in dem Gewimmel des Dargestellten nicht unterzugehen, klammert er sich an die Leserichtung, blickt nach links und sieht etwas, was er kennt. Ein üppiger Garten überzieht den gesamten Flügel, im unteren Drittel ein nacktes Paar, in dessen Mitte Gott steht, sie am Handgelenk haltend. Adam und Eva im Garten Eden in dem Moment, in dem Gott das Weib dem Manne zuführt. Hinter der Gruppe erhebt sich aus dem Zentrum der Tafel in fleischfarben-floraler Symmetrie der Paradiesbrunnen, und um ihn herum tummeln sich die drei Gattungen der Bosch'schen Fauna: Tiere des europäischen Kontinents, Tiere ferner Kontinente - von denen man damals erste Eindrücke durch Illustrationen der frühen Fernreisenden erhielt - und die der Phantasie des Künstlers entsprungenen Geschöpfe. Die Schlange, das normalerweise auffälligste Attribut der beiden ersten Menschen, ringelt sich hier aber versteckt "im Mittelgrund diskret um den Stamm einer Palme", und die Besonderheit des somit nicht dargestellten Sündenfalles ergibt sich aus der Beziehung des linken Flügels zum Mittelbild.

Auf dem rechten Flügel quält man die Sünder mit ihren ehemaligen Gelüsten. Im Vordergrund werden Spieler an Spelunkentische genagelt und mit Spielbrettern geprügelt. Darüber sind Verdammte an Harfensaiten aufgezogen, an Lautenhälse gebunden, in Leiern eingequetscht und in Flöten gestopft oder mit Flöten gestopft. Es herrscht ein Höllenlärm. "Die satirische Kühnheit Boschs findet in der rechten unteren Bildecke des Höllenflügels, gleichsam auf einem Proszenium der Hölle, zu ihrem gewagtesten Ausdruck. Es handelt sich hier um eine Schuldverschreibung an die Kirche. Ein fettes Schwein, drapiert mit dem Schleier einer Dominikaner-Nonne, verführt einen widerstrebenden Mann mit ihren Küssen, einen Kontrakt zu unterschreiben, der sein Vermögen der Kirche vermacht." Darüber sitzt der vogelköpfige Höllenfürst auf seinem Klothron, verschlingt Seelen und scheidet sie wieder aus. Alle sind nackt. Es ist kalt. An riesige Schlittschuhe Gefesselte versinken im vereisten Fluss. In den Rümpfen zweier dunkler Kähne wurzeln die Beinstümpfe des "Baum-Menschen", der sich umwendet um zu sehen, was unter seinen Rippenbögen vor sich geht, und sein Brustkorb ist voller Zecher. Auf dem Kopf des Ausgehöhlten marschieren auf einer Platte Pärchen aus Dämonen und Sündern. Letztere werden auch hier kakophonisch gemartert, diesmal durch die Dezibel eines rasierten Dudelsackes. Im Hintergrund ziehen riesige Armeen brandschatzend von Stadt zu Stadt, aus denen Massen von Flüchtlingen erfolglos versuchen zu entkommen. Die ewige Nacht wird nur erhellt durch die Feuer, die in den Ruinen der Häuser lodern.

"Das alles müsste nicht sein, wenn..." Auf diese einfache Formel lässt sich der Ansatz zu Beltings überzeugender Erklärung des Mittelbildes des Triptychons bringen. Aus dem Thema des linken Flügels folgt üblicherweise, wenn der Sündenfall dargestellt wäre, das Thema des rechten Flügels. "Die Seitenflügel stellen die beiden Orte dar, die im göttlichen Richtspruch in der Alternative von ,freigesprochen' oder ,schuldig' vorgesehen waren." Wie jedoch sähe die Welt aus, wenn es keinen Sündenfall gegeben hätte? Auf welche Bibelstelle bezieht sich Bosch bei der zentralen Tafel? "Das dritte Kapitel im Buche Genesis beginnt mit dem folgenreichsten und berühmtesten ,Aber' (Sed), das in der Literatur je formuliert worden ist. ,Aber die Schlange war schlauer als alle Tiere, die Gott gemacht hatte.'" Aber die Schlange ringelt sich ja, wie schon erwähnt, nur diskret um eine Palme, also hätte es aber auch anders ausgehen können, aber sie hätte sie diskret bleiben müssen.

Der Garten sieht aus wie der Garten Eden, er hat die Geographie des Garten Eden, er ist der Garten Eden. In der Entfernung strömen aus dem Paradiesbrunnen die Paradiesflüsse in die vier Himmelsrichtungen durch vier blaue und fleischfarbene Gesteinspflanzengebilde. Davor durchquert die Bildmitte eine Rasenfläche, in deren Zentrum ein kreisrunder Teich liegt. Im Vordergrund trifft Wasser von links auf Land von rechts. "Der Maler lockt uns hier in das Paradies, von dem es im Buche Genesis heißt, es sei dem Menschen überlassen worden, damit er sich dort fortpflanze und sich die anderen Lebewesen untertan mache. Der Widerspruch in diesem Bild liegt darin, dass wir das Paradies bevölkert sehen." Die Schlange also blieb diskret, und das Paradies ist voller Menschen. Sie sind überall, und sie sind alle nackt. Sie schwimmen in den Flüssen und klettern auf den Brunnen. Aus dem runden Teich steigen schönste Frauen, und um den Teich reiten Männer auf verschiedensten Tieren der drei Gattungen. Vorne rechts tummeln sich die Grüppchen an Land, gegenüber planschen sie im Wasser. Ganz am linken unteren Bildrand ist einer, der die Umstehenden auf Adam und Eva im Nachbarbild hinweist, als spräche er: "Seht, von den Beiden stammen wir ab." Allen, so könnte man sagen, scheint die Sonne aus dem Arsch, und einem wachsen sogar Blumen aus selbigem. Man fröhnt ungezwungen und schamlos sämtlichen Freuden der Körperlichkeit. Doch diese freudvolle Wollust wirkt auf irritierende Weise neutral, trocken und steril, denn dieser Zustand ist nicht die Ausnahme, er ist die alltägliche Normalität. "Der ,Garten der Lüste' ist geradezu der klassische Fall für die Widersprüche in Boschs Kunst, vor der die üblichen Methoden der Ikonographie versagen. Das Triptychon benutzt eine Altarform, ohne ein Altar gewesen zu sein, und verwendet biblische Themen, ohne sich mit einer Nacherzählung der Bibel zu begnügen. Die Probe aufs Exempel liefert die Mitteltafel, deren Sinn so lange umrätselt war. Sie scheint das biblische Paradies darzustellen und bleibt doch darin Fiktion, dass es dieses Paradies, so wie wir es hier zu sehen bekommen, nie gegeben hat."

Hans Belting stellt sich mit seinem Band an das Ende einer langen Reihe von Interpretatoren, die sich jeweils mehr oder weniger glücklich am "Garten der Lüste" versucht haben. Beltings Argumentation ist schlüssig und überzeugend. Seine ausführliche Interpretation der Tafeln versieht er des weiteren mit Texten zu Leben und Werk des Künstlers und mit Gedanken zur Rezeptionsgeschichte des "Gartens". Abschließend begibt er sich auf eine Reise - natürlich ausgehend in Boschs Eden - durch einzelne Aspekte der Geistes- und Kunstgeschichte der Zeit um 1500. Mit dem Brant'schen Narrenschiff geht es zu den neu entdeckten Welten Westindiens, bis hin zu Thomas Morus' Insel "Utopia."

Titelbild

Hans Belting: Hieronymus Bosch - Garten der Lüste.
Prestel Verlag, München 2002.
128 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3791326449

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